Zwölf Kritiken an der Eurodividende und Alternativen für eine soziale Europäische Union

Philippe Van Parijs (2013/2017) schlägt eine sogenannte Eurodividende vor, einen bedingungslos gezahlten Transfer für alle Bewohner/innen der EU bzw. der Eurozone. Die Eurodividende soll durchschnittlich 200 Euro betragen. Die Eurodividende versteht sich als ein transnationales Transfersystem, welches durch die jeweiligen Mitgliedsstaaten finanziert werden und eine Umverteilung der Gewinne der europäischen Integration bewirken soll. Sie bedeutet für viele, insbesondere für Arme, keine Verbesserung der Einkommenssituation und verschärft die soziale Ungleichheit in den einzelnen Ländern.

Grundsätzlich kann man die Probleme anerkennen, die von Van Parijs für die Begründung der Eurodividende aufgeführt werden. Das sind die fehlenden Mechanismen innerhalb des EU-Staatenbundes, die für eine Abfederung der Folgen bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Mitgliedslandes sorgen – zum Beispiel durch finanzielle Ausgleiche innerhalb des Staatenbundes. Es ist aber grundsätzlich zu fragen, warum die von Van Parijs genannten vier Problembereiche mit der hochproblematischen Eurodividende gelöst werden sollen. Wären nicht andere Instrumente viel geeigneter, um die von Van Parijs genannten Probleme zu lösen?

Die folgende Kritik bezieht sich ausschließlich auf den konkreten Vorschlag der Eurodividende von Van Parijs. Sie gilt aber weitestgehend auch für andere Ansätze eines transnationalen partiellen Grundeinkommens[1] auf der EU-Ebene.

 I               Thesen

 1. Anspruchsberechtigung unklar bzw. problematisch

Van Parijs macht widersprüchliche Angaben zum Kreis der Leistungsberechtigten der Eurodividende: Mal ist es a) jede/r rechtmäßige/r Bewohner/in der EU, mal b) jede/r rechtmäßige/r Bewohner/in der Mitgliedsländer der Eurozone bzw. derjenigen Länder, die den Euro in Kürze einführen, mal ist es c) jede Bewohner/in. Schon diese Unklarheiten bezüglich des Kreises der Anspruchsberechtigten werfen allerhand Fragen auf (vgl. Van Parijs 2013: 44; Van Parijs / Vanderborght 2017: 235; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017: 6 f.). Eine Einengung auf „rechtmäßige“ Bewohner/innen ist grundsätzlich problematisch. Der moderne menschenrechtliche Ansatz müsste sein: Jede/r hat das Recht auf Freizügigkeit und Grundrechte, auch soziale! Oder kurz gefasst: Kein Mensch ist illegal![2]

2. Finanzierung der Eurodividende unklar bzw. problematisch

Die Finanzierung der Eurodividende ist vollkommen unklar bzw. unausgereift sowie EU-vertragsrechtlich problematisch.

a) Es wird mit „ca. 20 % der EU-weit harmonisierten Mehrwertsteuerbasis“ als Finanzierungsgrundlage der Eurodividende durch Van Parijs argumentiert (Van Parijs 2013: 44). Bisher gelten in der EU 0,3 Prozent der harmonisierten Mehrwertsteuerbasis als Beitragssatz der EU-Länder zur teilweisen Finanzierung von EU-Ausgaben. Eine Steigerung auf 20 Prozent der EU-weit harmonisierten Mehrwertsteuerbasis zur (Mit)Finanzierung der EU-Eigenmittel inkl. Mittel für die Eurodividende würde „die Frage nach den Bedingungen und Grenzen der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit des Verfassungsstaates im Rahmen der europäischen Integration Deutschlands“ (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017: 10 f.) stellen. Dies gilt sicher auch für andere Länder. Denn es würden erhebliche Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben und für das Sozialsystem des jeweiligen Landes fehlen, da sie nun an die EU gehen.[3] Ein Sozialabbau und Abbau öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen in den betreffenden Ländern kann dadurch provoziert werden (vgl. These 8).

b) Wäre dagegen von Van Parijs gemeint, die Eurodividende durch eine Anhebung des Mindestmehrwertsteuersatz in allen Ländern auf 20 Prozent (vgl. Van Parijs 2013: 44) bzw. 19 Prozent (Van Parijs / Vanderborght 2017: 239) zu finanzieren, würde sich nicht nur die Frage nach der Grenze EU-vertraglicher Normierungsmöglichkeiten der Mindeststeuersätze für indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer stellen (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017: 9). Sondern es stellt sich auch die Frage, ob damit nicht die Ärmsten getroffen werden. Denn eine Erhöhung der Mindestmehrwertsteuersätze bedeutet Kaufkraftverlust: Dieser Kaufkraftverlust trifft am stärksten die unteren Einkommensschichten. Auch der Kaufkraftwert der Eurodividende selbst würde durch diese Finanzierungsart gemindert. Dies wäre auch der Fall, wenn die nationale Komponente des gesamten Mehrwertsteuersatzes teilweise gesenkt würde, wie Van Parijs als Möglichkeit beschreibt (vgl. Van Parijs / Vanderborght 2017: 240). In diesem Falle würden darüber hinaus, wie bei Punkt a beschrieben, nationale Steuereinnahmen sinken.

c) Andere Möglichkeiten der Finanzierung der Eurodividende oder anderer transnationaler partieller Grundeinkommen (z. B. durch die Einkommensteuer, durch Steuern auf Naturressourcenverbrauch usw.) sind weder auf ihre EU-vertragsrechtlich gesicherte Durchführbarkeit noch auf ihre Wirkungen insbesondere im Hinblick auf die unteren und mittleren Einkommensschichten geprüft.

Die Finanzierung der Eurodividende ist also vollkommen unklar und problematisch. Grundsätzlich wäre EU-vertragsrechtlich ein für die Eurodividende nötiger neuer Eigenmittelbeschluss der EU – egal, woraus diese Eigenmittel sich speisen – nur dann möglich, wenn alle Mitgliedsstaaten dem zustimmen. Das dürfte äußerst unwahrscheinlich sein.

3. Eurodividende verhindert nicht Armut

Die Eurodividende von durchschnittlich 200 Euro monatlich verhindert als alleinige Einkommensquelle nicht Armut in den Ländern, deren Armutsrisikogrenze über den genannten 200 Euro oder einem etwas höheren Wert der Eurodividende liegt.[4] Aber auch in den Ländern, in denen die monatliche Armutsrisikogrenze unterhalb von 200 Euro liegt (z. B. Bulgarien, Rumänien, vgl. Eurostat), ist Armut nicht ausgeschlossen. Denn es wird von Van Parijs von einer durchschnittlichen Höhe der Eurodividende von 200 Euro gesprochen. Die Eurodividende kann in den armen und ärmsten Ländern also durchaus niedriger sein: „Ihre Höhe kann von Land zu Land entsprechend der Lebenshaltungskosten variieren.“ (Van Parijs 2013: 44) Das würde bedeuten, dass auch in den armen und ärmsten Ländern Armut nicht beseitigt wird.

Grundsätzlich bleiben aber alle diejenigen in Armut, die nicht zum Personenkreis der Anspruchsberechtigten der Eurodividende gehören und über keine weiteren Einkommensquellen verfügen (These 1). Genauso bleiben grundsätzlich diejenigen einkommensarm, deren Armutslücke größer als ca. 200 Euro ist, die also selbst bei einem an dieser Stelle unterstellten zusätzlichen Einkommen von ca. 200 Euro durch die Eurodividende, weiterhin unterhalb der Armutsrisikogrenzen verbleiben. Darüber hinaus: Wenn, wie hier unterstellt, alle Personen 200 Euro zusätzlich bekommen würden, würde sich die Armutsrisikogrenze (mediangemitteltes Nettoäquivalenzeinkommen) nach oben verschieben (weil der Median nach oben rutscht), so dass auch diejenigen, deren Armutslücke bisher kleiner als 200 Euro war, weiterhin einkommensarm bleiben. Die Armutsquoten würden sich nicht verändern (relative Armut).[5]

Allerdings hat Van Parijs jüngst darauf verwiesen, dass keineswegs automatisch alle Nettoeinkommen der Steuerpflichtigen steigen würden. Denn die Eurodividende „kann als gleichwertig mit einer einheitlichen Steuergutschrift angesehen werden, die die üblichen Steuerbefreiungen in den unteren Einkommensklassen jedes Einkommensteuerpflichtigen ersetzen würde“ (Van Parijs / Vanderborght 2017: 240). Das würde ebenfalls bedeuten, dass Armut der Steuerpflichtigen mit einem niedrigen Einkommen nicht verhindert wird bzw. keine Einkommenserhöhung für diese Personengruppe durch die Eurodividende erfolgt.

 4. Eurodividende verbessert nicht die Einkommenssituation von Sozialleistungsbeziehenden

Die Eurodividende gilt Van Parijs als „eine universelle und bedingungslose Basis, die nach Belieben durch Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen und Sozialleistungen ergänzt werden kann“ (Van Parijs 2013: 44). Diese Ergänzungsmöglichkeit ist aber bei vielen Sozialeinkommen in den Ländern keineswegs gegeben. Denn viele der bestehenden Sozialleistungen sind bedürftigkeitsgeprüft (sozialadministrative Prüfung von Einkommen und Vermögen), zum Beispiel alle Grundsicherungen bzw. Sozialhilfen, auch das Wohngeld, in Deutschland auch die Ausbildungsförderung. Das heißt, die Eurodividende würde auf diese Leistungen angerechnet und damit diese Leistungen minimieren. Denn die Grundsicherung/Sozialhilfe soll per Definition das Existenzminimum absichern, was mit der Eurodividende dann teilweise schon geschehen würde. Mit dieser Begründung ließe sich dann in den einzelnen Ländern die Anrechnung der Eurodividende auf die bestehende individuelle Sozialleistung vornehmen. Dagegen könnte die EU nicht vorgehen, denn die Mitgliedsstaaten allein entscheiden über die Ausgestaltung und Grundprinzipien ihrer Sozialsysteme. Mit dieser individuellen Anrechnung würde sich also auch die Einkommenssituation der bisher diese bedürftigkeitsgeprüften sozialen Leistungen Beziehenden nicht verändern. Wenn sie trotz nationaler Sozialleistungen arm sind, verbleiben sie in Armut. Das heißt: Auch für diese nicht einkommensteuerpflichtige Personengruppe verändert sich die Armutsquote nicht grundlegend. Außerdem: Wenn die Eurodividende über eine erhöhte Mindestmehrwertsteuer finanziert würde, würde sich die soziale Situation derjenigen, die Sozialleistungen beziehen, verschlechtern. Sie hätten unterm Strich mglw. sogar noch weniger Kaufkraft (siehe These 2).

5. Eurodividende befreit viele nicht von der Abhängigkeit von entwürdigenden und repressiven Sozialleistungen und von der Sozialbürokratie

Die Eurodividende befreit viele Menschen nicht von der Abhängigkeit von bestehenden repressiven und sanktionsbewehrten Sozialleistungen und von der Sozialbürokratie. Viele verbleiben im jeweiligen entwürdigenden, diskriminierenden und stigmatisierenden Sozialleistungssystem und werden nicht vom ökonomisch erpressten Arbeitszwang befreit. Das gilt für alle Menschen, die grundsätzlich höhere Sozialleistungen als die Eurodividende haben (vgl. Blaschke 2011, Blaschke 2014 – Text, Blaschke 2014 – Präsentation). Dies bestätigt Van Parijs: Die Eurodividende käme nicht on top auf bestehende Sozialleistungen, sondern würde den unteren Sockel aller existierenden Sozialleistungen bilden, und der Rest, wenn das aktuelle Niveau dieser Sozialleistungen höher ist, würde in Form der bedingten Aufstockungen gewährt werden (vgl. Van Parijs / Vanderborght 2017: 240). Auch bestätigt Van Parijs hiermit das in These 4 Festgestellte: Die Eurodividende verbessert nicht die Einkommenssituation von Sozialleistungsbeziehenden.

6. Eurodividende verhindert nicht verdeckte Armut (Nichtinanspruchnahme)

Viele Menschen (in Deutschland zum Beispiel bis zu 68 Prozent) nehmen die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht in Anspruch. Das sind in der Regel Menschen, die Ansprüche auf aufstockende Sozialleistungen haben, weil ihr Erwerbs- oder andere Einkommen (wie z. B. Rente) nicht ausreichend hoch sind. Grund für die Nichtinanspruchnahme der zustehenden Leistungen ist der stigmatisierende und diskriminierende Charakter bedürftigkeitsgeprüfter und repressiver sozialer Leistungen: Aus Scham, Unwissenheit und Angst vor tiefgreifenden Sozialkontrollen und Zwangsmaßnahmen werden zustehende aufstockende Leistungen nicht in Anspruch genommen, obwohl ein Rechtsanspruch darauf besteht. Die Eurodividende würde zwar diejenigen aus der bisherigen verdeckten Armut befreien, deren Aufstockungsanspruch unter der Höhe der Eurodividende läge, die anderen verdeckt Armen aber nicht. Außerdem würde die Eurodividende viele, die bisher nicht verdeckt arm waren und bisher alle ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nahmen, in die verdeckte Armut treiben – nämlich diejenigen, die aufgrund der Eurodividende nunmehr einen geringeren (aufstockenden) individuellen Leistungsanspruch hätten und auf diesen aufgrund der repressiven Sozialsysteme verzichten: Da sie weiterhin im entwürdigenden und repressiven Leistungssystem verbleiben würden, wäre der Druck auf diese Personen groß, sich diesem Sozialsystem unter Verzicht auf (gering) aufstockende Sozialleistungen zu entziehen.[6] Das heißt unterm Strich: Mit der Eurodividende würde sich lediglich der Personenkreis der verdeckt Armen verändern. Verdeckte Armut würde aber nicht verhindert. In Abhängigkeit von der Einkommenssituation der von Sozialleistung abhängigen Personengruppe könnte der Kreis derjenigen, die auf ihre aufstockenden Leistungen verzichten, sogar noch größer werden – die Quote der Nichtinanspruchnahme könnte steigen. Die Eurodividende würde in diesem Fall den bestehenden grundrechtswidrigen Zustand hinsichtlich der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen sogar verschärfen.

7. Eurodividende befreit nicht vom Zwang zur Arbeit oder anderen Gegenleistungen

Einige argumentieren, dass die Eurodividende zumindest den Arbeitszwang oder den Zwang zu anderen Gegenleistungen minimieren würden – weil bei Verweigerung der Arbeit oder Gegenleistung zumindest die Eurodividende nicht kürzbar oder entziehbar wäre. Diese Argumentation könnte hinsichtlich derjenigen wenigen Länder zutreffen, deren Sozialleistungen unterhalb der Höhe der tatsächlich gezahlten Eurodividende liegen. Sie trifft aber nicht für die anderen Länder zu: Denn die dort weiterhin bestehenden Sozialleistungen (vgl. These 5) können bei Verweigerung der Arbeit gekürzt werden. Das heißt, wer nicht wegen einer Kürzung der individuellen Sozialleistung unter das jeweilige staatliche Existenzminimum rutschen will, muss aus Gründen der Existenznot seine Haut zu Markte tragen, seine Arbeitskraft verkaufen – der existenzielle Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung bleibt bestehen. Darüber hinaus: In Ländern und Städten, in denen die Mietpreise für Wohnungen im mittleren und hohen Bereich liegen, ist das Genannte noch problematischer: Dem Betroffenen ist im Falle eines Entzugs der Sozialleistung wegen Arbeitsverweigerung mit der Eurodividende von 200 Euro nicht die Wohnung gesichert – die Eurodividende schützt in diesem Falle nicht vor dem Verlust der Wohnung.

8. Eurodividende reizt nationalen Sozialabbau an

Es könnte mit der Einführung der Eurodividende die grundsätzliche Senkung der bestehenden nationalen Sozialleistungen bzw. Sozialleistungsausgaben um den Betrag der Eurodividende politisch einkalkuliert und durchgesetzt werden:

Erstens besteht die Gefahr des Abbaus nationaler Sozialleistungen, weil bereits ein Teil der Existenzsicherung durch die Eurodividende gegeben ist. Für Van Parijs ist die Kürzung nationaler Sozialleistungen und damit auch nationaler Sozialausgaben sogar Bestandteil des Konzepts der Eurodividende als Sockel bestehender Sozialleistungen: „Die nationalen Haushalte würden davon profitieren, dass sie die unteren 200 Euro aller Sozialleistungen nicht mehr decken müssten.“ (Van Parijs / Vanderborght 2017: 240) Damit würden nach Van Parijs die „nationalen Haushalte […] von der Unterdrückung der entsprechenden Steuerausgaben profitieren. Die Mitgliedstaaten könnten daher die nationale Steuerbelastung nach unten anpassen.“ (ebenda) Sie müssen die frei werdenden Steuermittel also nicht für eine Verbesserung der Sozialsysteme ausgeben, damit diese vor Armut schützen.

Zweitens besteht die Gefahr des Sozialabbaus, weil die Länder mehr als bisher an die EU zahlen müssten, um die Eurodividende zu finanzieren, den Ländern somit auch Mittel für die bestehenden eigenen Sozialleistungssysteme fehlen (Thesen 2a und 2b).

Unter Berücksichtigung, dass in vielen Ländern konservative und neoliberale Regierungen herrschen, ist der Sozialabbau, begründet mit höheren Abgaben an die EU, sogar politisch sehr wahrscheinlich. Sozialabbau wegen EU-Regelungen wäre Wasser auf die Mühlen von nationalistischen, von rechtsradikalen und rechtspopulistischen Kräften in der EU. Es würde auch dem Ziel der Eurodividende, der europäischen Integration, zuwiderlaufen.

9. Eurodividende verschärft soziale Ungleichheit in den Ländern

Mit der Eurodividende würde sich die Einkommenssituation vieler Sozialleistungsbeziehenden nicht verändern, viele Menschen würden in Armut verbleiben (vgl. Thesen 3 und 4). Es würde sich dagegen die soziale Ungleichheit bzw. Einkommensungleichheit in einem Land zwischen Sozialleistungsbezieher/innen und Personen mit geringem Einkommen einerseits und Personen mit höheren Erwerbs- und mit Kapitaleinkommen andererseits verschärfen: weil bei den Ersteren die schlechte Einkommenssituation bestehen bleibt, bei den Letzteren die Eurodividende ein zusätzliches Einkommen wäre. Eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit bzw. Einkommensungleichheit durch die Eurodividende wäre Wasser auf die Mühlen von Nationalisten, von Rechtsradikalen und Rechtspopulisten. Um es ganz deutlich zu sagen: Nicht der nötige Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern Europas ist mein Kritikpunkt! Es wird von mir ein Vorschlag kritisiert, bei dem Sozialabbau, steigende soziale Ungleichheit in den einzelnen Ländern eine mögliche Folge ist! Dies genau aus dem Grund, den Philippe Van Parjs selbst benennt: „Mitgliedsstaaten sind […] gezwungen, sich wie Firmen zu benehmen, […] erpicht darauf, jegliche Sozialausgaben zu stoppen, die nicht als Investment verkauft werden können, sowie alle Modelle auslaufen zu lassen, die voraussichtlich Wohlfahrtstouristen und anderes unproduktives Volk anziehen.“ (Van Parijs 2013: 45)

10. Ausgleich zwischen ärmeren und reicheren Ländern in Frage gestellt

Der gewünschte Ausgleich zwischen ärmeren und reicheren Ländern kann durch die Eurodividende selbst teilweise in Frage gestellt werden: Für Deutschland, das sicher ein Nettozahler für die Eurodividende sein sollte, wäre es finanziell von großem Vorteil, die oben genannte individuelle Anrechnung der Eurodividende auf die Sozialleistungen (These 4) oder die ebenfalls oben genannte prinzipielle Kürzung bei den Sozialleistungs- und Steuersystemen (These 8) um den Betrag der Eurodividende vorzunehmen. So können sich einige Länder, die ein relativ gut ausgebautes und teures Sozialleistungssystem haben, mit der Eurodividende oder mit anderen transnationalen partiellen Grundeinkommen auf EU-Ebene eines Teils der Kosten für eigne Sozialleistungssysteme entledigen. Ärmere Länder, die dagegen kein oder nur ein gering ausgebautes Sozialleistungssystem haben, können keinen oder nur einen minimalen Entlastungseffekt bezüglich bestehender nationaler Sozialleistungs- und Steuersysteme durch die Eurodividende erreichen. Dies würde der Intention der Eurodividende, einen Ausgleich zwischen den ärmeren und reicheren Ländern zu erreichen, zumindest teilweise zuwider laufen.

Zu beachten ist, dass alle Ansätze eines partiellen Grundeinkommens, die auf transnationaler EU-Ebene gedacht sind, die bisher genannten Probleme haben.

11. Migrationseindämmung durch Eurodividende fraglich

Nach Philippe Van Parijs würde die Eurodividende die Migration von Menschen aus Überlebensgründen aus ärmeren Ländern der EU in reichere Länder eindämmen. Das wäre aber erstens auch der Fall, wenn in den ärmeren Ländern ausreichende Grund-/Mindesteinkommenssysteme durch Umverteilung geschaffen würden. Dazu bedarf es nicht der fragwürdigen und sozial hochproblematischen Eurodividende. Zweitens wird das Wohlstandsgefälle zwischen ärmeren und reicheren Ländern durch die Eurodividende nicht wesentlich minimiert, weil diese in allen Ländern eingeführt werden soll, also die Gesamteinkommen vieler Menschen in allen Ländern a) steigen bzw. b) auf gleichem Niveau bleiben würden. Gründe für Migration, z. B. hohe Wohlfahrts- und Einkommensunterschiede zwischen den Ländern, würden also weiterhin bestehen bleiben. Außerdem würde die Verschärfung der sozialen Ungleichheit in den Ländern die migrationsfeindliche Polemik und Politik der nationalen, rechtsradikalen und rechtspopulistischen Kräfte befördern.

12. Eurodividende EU-vertragsrechtlich problematisch bzw. zweifelhaft

Es könnte nun argumentiert werden, dass die Eurodividende oder andere transnationale partielle Grundeinkommen nicht auf bestehende individuelle Sozialleistungen angerechnet werden (These 4), oder dass sie nicht zur prinzipiellen Kürzungen der bestehenden Sozialleistungen führen sollen (These 8). Dies liegt aber nicht in der Entscheidungskompetenz der EU, sondern alleinig in der Entscheidungshoheit der Länder. Denn nach EU-Vertragsrecht gibt es keine Kompetenz der EU, den Mitgliedsländern eine solche individuelle Nichtanrechnung oder eine prinzipielle Nichtkürzung bestehender Sozialleistungen vorzuschreiben. Oder wie Van Parijs selbst betont: „Nach den bestehenden europäischen Verträgen ist die Sozialpolitik Sache der Mitgliedstaaten.“ (Van Parijs / Vanderborght 2017: 241)

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben in zwei Ausarbeitungen grundlegende Zweifel daran gehegt, ob die Einführung der Eurodividende mit geltendem EU-Vertragsrecht vereinbar wäre. Dazu wurden verschiedene Vertragsbestimmungen geprüft (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2017 und 2018) Auch wird festgestellt, dass es rechtlich zweifelhaft ist, ob das bestehende EU-Vertragsrecht eine Eurodividende als eine unionsrechtliche Leistung neben den nationalen Sozialleistungen ermöglicht (vgl. ebenda 2018: 2).

Grundsätzlich wird zur Eurodividende und ähnlichen Leistungen festgestellt: „Darüber hinaus gibt es in der bisherigen Rechtssetzungspraxis – soweit ersichtlich – keine Beispiele für EU-Maßnahmen, die vergleichbar der Euro-Dividende autonome Unionsleistungen als auch deren Finanzierung nur aus EU-Mitteln regeln. Vor diesem Hintergrund und im Lichte der übrigen Erwägungen zu den hier relevanten ausdrücklichen Kompetenzgrundlagen stellt sich die Frage, ob für ein solches Vorhaben nicht zunächst die EU-Verträge geändert werden müssten.“ (ebenda: 3)

Das hier Genannte träfe natürlich auch auf alle anderen Formen und Vorschläge eines transnationalen partiellen Grundeinkommens auf EU-Ebene, ebenso auf ein EU-Basiskindergeld zu.

 II        Fazit

1. Die Einführungsmöglichkeit einer Eurodividende oder anderer transnationaler partieller Grundeinkommen in der EU ist EU-vertragsrechtlich höchst zweifelhaft.

2. Die sozialen Wirkungen der Eurodividende sind hochproblematisch: Verbleib vieler Menschen in Armut und in repressiven Sozialsystemen, Verbleib der verdeckten Armut, verbleibender Zwang zur Arbeit oder Gegenleistung, möglicher Kaufkraftverlust, der insbesondere untere Einkommensschichten betrifft, Verschärfung der sozialen Ungleichheit bzw. Einkommensungleichheit in den Ländern, Möglichkeit des Sozialabbaus bzw. der prinzipiellen Kürzung sozialer Leistungen in den Ländern.

3. Ob eine Eurodividende oder andere transnationale partielle Grundeinkommen jemals in einem Grundeinkommen münden, die die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe für alle in der EU sichern, ist angesichts der genannten problematischen Wirkungen mehr als fraglich. Die Eurodividende kann aufgrund ihrer problematischen Wirkungen sogar die Bereitschaft zu Schritten zum Grundeinkommen für alle Menschen in der EU senken bzw. ganz blockieren. Die Grundeinkommensidee könnte sich nachhaltig blamieren.

4. Es ist mehr als fraglich, ob die Eurodividende oder andere transnationale partielle Grundeinkommen zur Identifikation der Bürger/innen in den EU-Ländern mit der Europäischen Union beitragen können – oder zum sozialen Zusammenhalt bzw. zur Beseitigung sozialer oder regionaler Disparitäten. Aufgrund der problematischen Wirkungen kann sie sogar desintegrativen, nationalistischen politischen Ansätzen und Kräften Vorschub leisten.

 III       Geeignetere Mittel, eine soziale Europäische Union zu erreichen

Es gibt geeignetere Mittel, eine soziale Europäische Union in Bezug auf die Systeme der sozialen Sicherung sowie Ausgleiche zwischen den Ländern zu erreichen: Die Einführung EU-weit geltender Mindeststandards in den sozialen Systemen der Länder, die Armut und Ausgrenzung in diesen Ländern wirklich beseitigen – anders als die Eurodividende.

a) Dazu gehören Grundeinkommen in den Ländern, die mindestens die Höhe der jeweiligen nationalen Armutsrisikogrenze erreichen[7] und durch eine Umverteilung von oben nach unten in diesen Ländern finanziert werden – also soziale Ungleichheiten in den Ländern enorm reduzieren und dadurch den europäischen Ausgleich befördern: Denn eine Gesellschaft, in der die sozialen Ungleichheiten minimiert bzw. minimal sind, ist eher bereit, Ländern, die wirtschaftliche Schwierigkeiten haben, etwas vermittels Finanztransfers zur Überbrückung der Schwierigkeiten abzugeben.

b) Genauso gehören dazu auch der Ausbau der öffentlichen sozialen Infrastruktur und Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich in den Ländern, der über transnationale Ausgleichs- und Strukturfonds gefördert werden kann.

Wer ein soziales und starkes Europa will, muss für einen Ausgleich zwischen den europäischen Ländern und zugleich für die Beseitigung der sozialen Ungleichheit in den europäischen Ländern sorgen.

Auch im Hinblick auf gelingende Bündnispartnerschaften mit sozialen Bewegungen und politischen Kräften für eine soziale, gerechte EU wären die genannten Alternativen bedeutend sinnvoller als die Eurodividende oder andere Ansätze transnationaler partieller Grundeinkommen mit deren problematischen Wirkungen.

Quellen

Blaschke, Ronald (2011): Minimum income, minimum allowances and basic income in Europe; https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2011/10/11-10-09-mindesteinkommen-grundeinkommen-europa-en.pdf (Abruf 10. Oktober 2018)

Blaschke, Ronald (2014 – Text): Unconditional basic income: an effective means of tackling (hidden) poverty and promoting freedom for all and democracy; https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2014/09/14_-_04_-_10_blaschke_brussels_en-2.pdf (Abruf 10. Oktober 2018)

Blaschke, Ronald (2014 – Präsentation): Unconditional basic income: an effective means of tackling (hidden) poverty and promoting freedom for all and democracy; https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2014/09/14_-_04_-_10_powerpoint_blaschke_brussels-2.pdf (Abruf 10. Oktober 2018)

Eurostat: Armutsgefährdungsgrenze – EU-SILC (Angaben dort für Erhebungsjahr, nicht für das Einkommensjahr, welches ein Jahr vor der Erhebung der Einkommen liegt); http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=ilc_li01&lang=de

Van Parijs, Philippe (2013): The Euro-Dividend; https://cdn.uclouvain.be/public/Exports%20reddot/etes/documents/2013.Euro-Dividend.Roadmap_to_Social_Europe.pdf (Abruf 26. März 2019, Übersetzung der Zitate R. B.)

Van Parijs, Philippe / Vanderborght, Yannick (2017): Basic Income. A radical proposal for a free society and a sane economy, Cambridge/London (Übersetzung der Zitate R.B.)

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2017): Unionsrechtliche Fragen zum Vorschlag zur Einführung einer „Euro-Dividende“; https://www.bundestag.de/blob/526282/5976305becdc347b6ce242315b6362f0/pe-6-054-17-pdf-data.pdf (Abruf 10. Oktober 2018)

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2018): Kurzinformation zu Fragen nach dem Bestehen unionrechtlicher Vorgaben zur Umsetzung einer „Euro-Dividende“; https://www.bundestag.de/blob/577736/0347b7ed4c985c5ff4586bdf2948894b/pe-6-127-18-pdf-data.pdf (Abruf 8. November 2018)

Endnoten

[1] Partielle Grundeinkommen sind bedingungslos gewährte Transfers, die nicht die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe der Menschen ermöglichen, weil sie zu niedrig sind. Das bedingungslose Grundeinkommen ist dagegen wie folgt definiert: “Unconditional Basic Income (UBI) is an amount of money, paid on a regular basis to each individual unconditionally and universally, high enough to ensure a material existence and participation in society. UBI is a step towards an emancipatory welfare system.” (https://www.ubie.org/who-we-are/)

[2] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kein_mensch_ist_illegal#Forderung_nach_Personenfreizügigkeit_als_Menschenrecht

[3] Zum Vergleich: Der gesamte EU-Haushalt beträgt im Jahr 2019 166 Milliarden Euro. Die Eurodividende allein würde ca. 1,2 Billionen Euro kosten, die durch die Mitgliedsländer der EU zu erbringen wären (rund 513 Millionen EU-Einwohner/innen * 200 Euro * 12 Monate). Für die Euro-Zone würde die Eurodividende ca. 818 Milliarden Euro kosten.

[4] In 19 der 28 Länder der EU lag die Armutsrisikogrenze bereits im Einkommensjahr 2016 über 400 Euro (also über dem Doppelten der durchschnittlichen Eurodividende), in 11 Ländern von ihnen über 1.000 Euro, in 10 Ländern sogar über 1.100 Euro (vgl. Eurostat, Werte monatlich netto). Obwohl aktuellere Werte noch nicht vorliegen, ist mit sehr großer Sicherheit davon auszugehen, dass die Armutsrisikogrenzen in allen EU-Ländern weiter gestiegen sind.

[5] Einkommensarmut im Sinne der relativen Armut lässt sich nur durch Einkommenserhöhungen bei den unteren Einkommensschichten bei gleichzeitiger Rück- bzw. Umverteilung von Einkommen von oben nach unten abschaffen – zum Beispiel durch ein stark rück- bzw. umverteilendes Grundeinkommen.

[6] Beispiel: Eine erste Person, die bisher einen Anspruch auf 150 Euro (aufstockende) Sozialleistung hatte und diese nicht in Anspruch genommen hat, würde durch eine Eurodividende in Höhe von 200 Euro aus der verdeckten Armut befreit. Eine zweite Person, die aber bisher einen Anspruch auf 300 Euro (aufstockende) Sozialleistung hatte, hätte mit einer Eurodividende von 200 Euro nur noch 100 Euro Anspruch auf (aufstockende) Sozialleistung. Da aber auch mit der Eurodividende das entwürdigende, repressive Sozialleistungssystem bestehen bleibt, wäre für diese Person der Grund für die Nichtinanspruchnahme der geringeren (aufstockenden) Sozialleistung – wie bisher bei der ersten Person – gegeben.

[7] Dazu gibt es Entschließungen im Europäischen Parlament (EU, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A6-2008-0364+0+DOC+XML+V0//DE und http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2010-0375+0+DOC+XML+V0//DE) und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Europa, http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-DocDetails-EN.asp?FileID=24429&lang=EN)

Zwölf Kritiken an der Eurodividende und Alternativen für eine soziale Europäische Union
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