Blaschke, Ronald ; Kipping, Katja: „Und es geht doch um ….“ Das Gespenst des Grundeinkommens, 2005
(erschienen in der Zeitschrift Sozialismus, Heft 10/2005, S. 13-18)
Eine Kritik des Beitrages von Jörg Schindler und Kolja Möller „Geisterdebatten um die These vom ‚Ende der Arbeit‘ oder Weshalb die Forderung nach Vollbeschäftigung nach wie vor zentral bleibt“ (erschienen in Sozialismus, Heft 7-8/2005)
In ihrem Artikel versuchen Kolja Möller und Jörg Schindler herzuleiten, warum die Forderung nach Vollbeschäftigung gerade für Linke wieder auf die Tagesordnung gehört. Dabei polemisieren sie u. a. gegen die Idee eines Grundeinkommens. Unsere Kritik an diesem Artikel entzündet sich im Wesentlichen an vier Punkten:
I Die Autoren kritisieren eine Geisterdebatte um das Ende der Arbeit, die eine von ihnen selbst konstruierte Debatte ist.
II Die Autoren wechseln wiederholt die Begrifflichkeit ihres besprochenen Hauptgegenstandes – der Arbeit. Sie benutzen einen verkürzten Arbeitsbegriff von Marx, verbinden diesen unreflektiert mit der Lohnarbeit. Marx und andere theoretischen Kritiken an der Arbeit werden nicht für die Formulierung von emanzipatorischen Reformzielen genutzt.
III Die Autoren landen mit ihrem Arbeitsbegriff bei der Vollbeschäftigungsforderung und damit in gefährlicher Nähe zu neoliberalen Strategien.
IV Die Autoren wissen nicht um die unterschiedlichen Ansätze von Grundsicherungen/Min-destsicherungen und Grundeinkommen. Ihnen entgeht der wesentliche Zusammenhang zwischen einem Grundeinkommen und der von ihnen präferierten Arbeitszeitverkürzung. Die emanzipatorische Zielsetzung eines Grundeinkommens wird nicht erfasst.
I „Das Ende der Arbeit“ – Geisterdebatte selbst konstruiert
Das Hauptargument der Autoren gegen die These vom „Ende der Arbeit“ lautet: Arbeit kann nie ausgehen, da die „Substitution von menschlicher Arbeit durch Technologie, Maschinen und Energie nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich ist“. Dieses „Gegen“argument ist richtig. Falsch ist, dass es Theoretiker gibt, die jenseits utopischer Vorstellungen behaupten, dass die menschliche Arbeit vollends durch Maschinen ersetzbar wäre. Dies wäre in der Tat auch nicht wünschenswert, denkt man an verschiedene Dienstleistungsarbeiten (Pflege, Bildung usw.).
Hier beginnt aber schon das Kreuz mit der Begrifflichkeit: Arbeit, von den Autoren nach Marx als „Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“, also als unmittelbare materielle Produktion begriffen, erfasst weder staatlich-administrative Arbeit noch einen Großteil der Dienstleistungsarbeiten. Auch schreiben die Autoren unreflektiert von „Theorien vom Ende der Arbeit(sge-sellschaft)“. Dabei lassen sie Debatten – wie sie z. B. auf dem Soziologentag 1982 geführt wurden – außen vor. Die Wissenschaftler diskutierten 1982 ausgehend von der Massenarbeitslosigkeit und dem Wertewandel über die „Krise der Arbeitsgesellschaft“. Konstatiert wurde die Auflösung subjektiver Orientierungen auf Erwerbsarbeit sowie die Auflösung starrer Erwerbsbiografien. Hinterfragt wurde die Stellung der Arbeit hinsichtlich sozialer Integration und Identitätsfindung. Dies alles hatte nun keineswegs mit einer These von der Substitution der Arbeit durch Maschinen zu tun, wie die Autoren vermeinen, sondern mit einer kritischen Reflexion des Phänomens „Arbeit“.
(Sicherlich streitbare) Arbeitskritiken werden von Schindler/Möller in den Topf des Kapitels „Ende der Arbeit“ geworfen. Die von ihnen erwähnte Krisis-Gruppe geht aber gar nicht von einem Verschwinden der Arbeit aus, wie Schindler/Möller meinen. Die Gruppe Krisis beschreibt einen „Leichnam Arbeit“, nämlich der Arbeit, die auf dem Privateigentum basiert, die als tauschwertbezogene Lohnarbeit die gesamte Gesellschaft unterjocht. Die Gruppe Krisis plädiert für die Aufhebung der entfremdeten Arbeit und für andere Teilhaberegulationen bezüglich des materiellen Reichtums. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.[1]
Mit den postoperaistischen Theoretikern, z. B. Antonio Negri, gehen Schindler/Möller nicht besser um: Diese gehen davon aus, dass erstens die Erwerbsarbeit vergesellschaftet ist, d. h., dass auch die üblicherweise nicht als Erwerbsarbeit bezeichneten Tätigkeiten der Menschen Wert schaffend sind. Und zweitens meinen sie, dass der Anteil von Information, Wissen, Kommunikation, also der Anteil immaterieller Arbeit an Erwerbsarbeit gewachsen ist und weiter wächst. Nichts da mit dem „Ende der Arbeit“, wie Schindler/Möller meinen. Es ist dagegen ein theoretischer Versuch der Ausweitung des Arbeitsbegriffes, der die gesamte kapitalistische „Gesellschaft als große Fabrik“, der die Quelle des Werts aber nicht nur in der unmittelbaren Lohnarbeit(szeit) begreift.[2]
Die beiden Befürworter von Vollbeschäftigung, Jörg Schindler und Kolja Möller, verkennen schlichtweg Gehalt und Möglichkeiten von Kritiken an der Arbeit. Auf der Jagd nach dem selbst konstruierten Geist vom „Ende der Arbeit“ übersehen sie die emanzipatorische Kritik am Charakter der Arbeit. Die selbst konstruierte Geisterdebatte ist im Wesentlichen verursacht durch die Nutzung eines verkürzten und unreflektierten Arbeitsbegriffes von Karl Marx.
II Das Verständnis und die Kritik der Arbeit bei Marx[3]
Zur Klärung der Frage, was Marx unter Arbeit verstand, zunächst ein Zitat, welches den Zusammenhang mit dem von Schindler/Möller benutzten Arbeitsbegriff herstellt:
„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, …, worin der Mensch seinen Stoffwechselprozess mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt, kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht entgegen. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme, Beine, Kopf und Hand setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit … Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. … Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.“[4]
Die hier von Marx beschriebene Arbeit ist erstens eine unmittelbare materielle und notwendige Arbeit und zweitens eine dem schöpferischen Herstellen analoge körperliche Tätigkeit, die zugleich die menschliche Natur verändert. Marx stellt darüber hinaus fest: Die Unterordnung unter den technischen Zweck der Arbeit ist um so leichter, die Arbeit ist um so attraktiver, desto mehr eigner Inhalt, eine „mitreißende“ Gestaltung und spielerischer Genuss die Tätigkeit bestimmt.[5] Die Marxsche Bestimmung der attraktiven materiellen Arbeit wird durch kapitalistische Lohn-/ Erwerbsarbeit in der Regel nicht erreicht.
Schindler/Möller benutzen nun in ihrem Beitrag ausdrücklich die auf den „Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“ verkürzte Bestimmung der Arbeit als unmittelbare materielle und notwendige Produktion. Dieser verkürzte Arbeitsbegriff wird von Schindler/Möller unreflektiert für die Bestimmung „Arbeit als Quelle des Reichtums“ und für die Diskussion der „Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital“ verwendet:
– Das Gegenstück zum Kapital ist aber die tauschwert- und mehrwertschaffende Lohnarbeit in der materiellen Produktion, also eine bestimmte historische Form der Arbeit als Herrschaftsverhältnis – und nicht der „Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“ an sich. Deswegen schrieb Marx im Text vor seiner o. g. Arbeitsbestimmung im „Kapital“: „Der Arbeitsprozeß ist … zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form zu betrachten.“[6] Die historische Formbestimmtheit der Arbeit wird in dem hier kritisierten Beitrag von Schindler/Möller völlig ausgeblendet.
– Marx beschreibt in seinen Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie einen weiteren Formenwandel der Arbeit: „Er [der Arbeiter] tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort, die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.“[7] Neben der unmittelbaren materiellen Produktion gibt es also eine andere „Arbeit“. Diese „Arbeit“ löst die Arbeitszeit als Maß des Reichtums auf, so Marx. Denn die dieser „Arbeit“ innewohnende Produktivkraft, die neben der materiellen, nunmehr maschinell geprägten Produktion steht, die die materielle Produktion reguliert, ist „das allgemeine gesellschaftliche Wissen“, die „Kombination der menschlichen Tätigkeiten“ und die „Entwicklung des menschlichen Verkehrs“. Und diese allgemeinen sozialen, demokratischen und Wissensfähigkeiten des Menschen entwickeln und bilden sich jenseits der durch Arbeitszeit messbaren unmittelbaren/mittelbaren materiellen Produktion.[8]
Halten wir fest:
- Arbeit als Quelle des Reichtums ist also schon in der industriellen und erst Recht in der nachindustriellen wissensbasierten Gesellschaft bedeutend mehr als der „Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“, also mehr als die unmittelbare materielle, notwendige Produktion.
- Grundpfeiler des Reichtums ist nunmehr die immaterielle produktive und reproduktive „Arbeit“, die aber vom Prinzip her (wohlgemerkt vom Prinzip her!) keine Grenzen durch Arbeitszeit und direkte Verfügungsgewalt durch Dritte kennt: Immaterielle Arbeit ist die gesamte immaterielle Produktions- und Reproduktionstätigkeit (z. B. Organisations-, Wissens-, Phantasie-, Kommunikations-, Erziehungs-, Bildungs-, Kultur- und Sorgetätigkeit …). Diese ist im entwickelten Kapitalismus zum Teil unter das Diktat des Kapitalverhältnisses und der Lohn-/Erwerbs-arbeit gestellt. Sie ist aber genauso als unbezahlte private Tätigkeit, als bürgerschaftliches Engagement oder als politische, kulturelle, künstlerische und Bildungs-Tätigkeit der Menschen möglich.
Gehen wir mit Marx nun weiter zu seinen Überlegungen zur Selbstverwirklichung und Selbst-bildung der Menschen, wie er sie über die materielle Produktion hinaus und in der weiteren Kritik an der kapitalistischen Lohn-/Erwerbsarbeit entwickelt hat: „Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.“[9] Dabei ist free activity, not labour die Marxsche Vision.[10] In der free activity ist der produktiv Tätige ein sich zugleich als Gattungswesen produzierendes Wesen. Diese freie produktive Tätigkeit kann so Lebensbedürfnis[11], Selbstgenuss und volle Entwicklung des Individuums sein. Free activity vollzieht sich in der „freie[n] Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist.“[12] Free time, das ist für Marx die Zeit, „die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum Genuß, zur Muße, (so) daß sie zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt. Die Zeit ist der Raum für die Entwicklung der faculties* (*Fähigkeiten) etc.“[13] In diesem Frei-Raum, so Marx, „beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit … Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“[14]
Und was hat diese Bestimmung der „free activity“ mit dem Reichtum einer Gesellschaft zu tun? „Time of labour, auch wenn der Tauschwert aufgehoben, bleibt die schaffende Substanz des Reichtums … Aber free time, disposable time, ist der Reichtum selbst – teils zum Genuß der Produkte, teils zur free activity, die nicht wie die labour durch den Zwang eines äußren Zwecks bestimmt ist, der erfüllt werden muß, dessen Erfüllung Naturnotwendigkeit oder soziale Pflicht ist.“[15]
Der in der Arbeitszeit geschaffene materielle Reichtum ist eben nicht Selbstzweck, wie Schindler/Möller unausgesprochen unterstellen, sondern „die disposable time [ist] das Maß des Reichtums“[16]. Das heißt, die freie Zeit für Muße, Genuss und die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten gilt als das Maß des materiellen Reichtums und der Teilhabe daran, nicht die geleistete Arbeit(szeit).[17] Schindler/Möller postulieren genau das Gegenteil: Wer seine Fähigkeiten frei entwickeln will, muss sich diese Möglichkeit erst durch Teilhabe an der materiellen Reichtums-Produktion, an der dort geleisteten Lohn-/Erwerbsarbeit(szeit) unter dem Kapitalverhältnis „verdient“ haben. Das ist eine Neuauflage des Paulus-Spruches, wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Das von Schindler/Möller geforderte Recht auf Arbeit wird so zum Arbeitszwang.
Marx geht es nicht um die bloße Maximierung der Produktivität und der Produktion des Menschen im Sinne des materiellen Produktionsprozesses, schon gar nicht in Form der fremdbestimmten Lohn-/Erwerbsarbeit. Marx humanistischer Ansatz besteht darin, die volle Entwicklung des Menschen als freien Menschen als Selbstzweck und als Maß des materiellen Reichtums zu setzen. Schindler/Möller verstehen dagegen die Arbeit unter dem Kapitalverhältnis und den davon abgeleiteten materiellen Reichtum als „Reichtum selbst“, die und der „solidarisch“ verteilt werden soll.
Wenn wir aber nun in einer hochproduktiven, schon längst über das notwendige Maß hinaus produzierenden Gesellschaft leben, ist nicht die „Vollbeschäftigungsforderung“ ein „Kernbestandteil eines sozialen Reformmodells“, wie Schindler/Möller behaupten. Emanzipatorische Reformen zielen vielmehr, nimmt man Marx ernst, auf eine weitere Reduktion der notwendigen Arbeit, eine weitgehende Befreiung aller Individuen von der fremdbestimmten Lohn-/Erwerbsar-beit und ein Recht aller auf free activity – natürlich auf der Grundlage des unbedingten Rechts auf die Teilhabe am materiellen gesellschaftlichen Reichtum.
Schindler/Möller erfassen nicht den marxschen Arbeitsbegriff sowie die ihm innewohnenden kritischen und emanzipatorischen Ansätze: Reduktion der notwendigen Arbeit; Überwindung der fremdbestimmten Arbeit; freie Zeit zur Muße, zum Genuss, zur Entwicklung individueller Fähigkeiten als Maß materieller Produktion und Produktivität.
III Die „linke“ und die neoliberale Vollbeschäftigungsforderung
Schindler/Möller sehen es als ausgemacht an, dass die Vollbeschäftigungsforderung deswegen emanzipatorisch sei, weil sie erstens dem Leitziel eines Rechts auf Teilhabe an der Produktion von materiellem Reichtum und zweitens dem Leitziel der solidarischen Umverteilung der Arbeit (unter dem Kapitalverhältnis!) verpflichtet sei. Das dritte Argument für die Vollbeschäftigung als „emanzipatorische“ Forderung lautet, dass die Lohn-/Erwerbsarbeit auch „gesellschaftliche Anerkennung, Gespräche, soziale Integration“ bedeute. Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Denn es ist richtig: Erwerbsarbeit gilt in der modernen, kapitalistischen Arbeitsgesellschaft als – wenn auch schwindendes – Anerkennungsprinzip für Einkommen und Status, gesellschaftliches Leben strukturierendes und Integration verheißendes kulturelles Phänomen. Diese kulturellen Zuschreibungen von Arbeit wurden seit Jahrhunderten millionenfach von den Menschen verinnerlicht. Diese kulturelle Projektion der Arbeit stützt die „Herren der Arbeitsgesellschaft“ (Ralf Dahrendorf), also diejenigen, die die Herrschaft über die Arbeit(sbedingungen) ausüben und die von der Arbeit anderer profitieren. Diese Projektion wird aber auch von den „Herren der Arbeitsgesellschaft“ gestützt, tausendfach: durch Ideologien und Institutionen wie Schule, Medien, Sozialsysteme und Gefängnisse. Wolfgang Engler verdeutlicht die Gewalttätigkeit dieser Arbeits-Kultur-Ideologie: „Eine Kultur, die in der Überzeugung lebt, daß Arbeiten und Menschsein ineinandergreifen wie die Glieder einer logischen Figur, wie Schluß und Rückschluß, wird die Arbeitsgesellschaft mit allen nur erdenklichen Methoden verteidigen und kein Zwangsmittel verschmähen, das ihre Annahme sicherstellt. Sofern und solange sich soziale Ordnung und Arbeit wechselseitig vertreten, steht das Leben ohne Arbeit für Regellosigkeit, Schmarotzertum …“ [18]
Das Fatale an der Vollbeschäftigungsforderung, einer Forderung der Arbeits-Kultur-Ideologie, liegt in deren Nähe zur neoliberalen Vollbeschäftigungspolitik mit ihrem Prinzip des Forderns und Förderns. Bei der Auflösung des Widerspruchs, der zwischen dem Wunsch nach Vollbeschäftigung der alten Art und der Realität eines nicht umkehrbaren Wandels der Arbeitswelt besteht, wird nur zu gern unreflektiert nach Arbeit gerufen. Dieser Ruf bekommt schnell den Beigeschmack von Arbeit um jeden Preis und sei es um den Preis der Gesundheit, einer verschmutzten Umwelt bzw. von einem Euro die Stunde. Leider wird der verständliche Wunsch vieler, den Lebensunterhalt durch eigene Tätigkeit zu verdienen, nur zu gern zum Abbruch zivilisatorischer Errungenschaften missbraucht. Nicht umsonst versuchen Propagandainstitute wie die Initiative für neue soziale Marktwirtschaft Deutungsmuster à la „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ zu verbreiten. Im Vorfeld des Jobgipfels beglückte die CDU die Menschheit mal wieder mit einer Reihe von Vorschlägen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Da war die Rede von Senkung der Unternehmenssteuer oder von der Aufweichung des Kündigungsschutzes. All diese Griffe in die neoliberale Mottenkiste sollen dann als sozial gelten? Nein. Danke! Sozial ist, was Arbeit schafft – diese Logik, konsequent weiter gedacht, hieße: auch Sklaven-, ja Kinderarbeit ist sozial.
Schindler/Möller wollen zwar keine Arbeit um jeden Preis, schon gar keine Sklaven- oder Kinderarbeit, sondern Arbeit für einen guten Preis. Sie würden dem Slogan „Vorfahrt für Arbeit“ mit dem Zusatz „Arbeit, die ordentlich entlohnt wird“ folgen. Das unterscheidet beide Rufe nach Vollbeschäftigung. Beide Varianten der Vollbeschäftigungsforderung, die linke wie die neoliberale, verbleiben aber befangen in der kritiklosen Hinnahme der Arbeit unter dem repressiven Kapitalverhältnis und in der Widersprüchlichkeit des Arbeit-Kapital-Zusammenhanges, die Marx so beschrieb: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch (dadurch), dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.“[19]
Linke Vollbeschäftigungsforderer, zu denen Schindler/Möller zählen, verklären den realen und widersprüchlichen Arbeit-Kapital-Zusammenhang. Damit vergeben sie die Chance, eine emanzipatorische Politik zu befördern und spielen dadurch auch den Neoliberalen in die Hände.
IV Grundeinkommen oder Grundsicherung? [20]
Grundeinkommen und Grundsicherung gelten Schindler/Möller als synonyme Begriffe. Das sind sie natürlich nicht. Kurz also zu den Begriffen:
Grundsicherungen und Grundeinkommen sind steuerfinanzierte Leistungen, deren Anspruchsberechtigung und deren Höhe von einer vorher geleisteten sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit entkoppelt sind. Grundsicherungen werden lediglich Bedürftigen zugestanden, sind also mit einer Bedürftigkeitsprüfung, bezogen auf den Haushalt bzw. auf die Familie, verbunden. Des weiteren sind Grundsicherungen/Mindestsicherungen an einen (Erwerbs-)Arbeits-zwang bzw. an eine Tätigkeitsverpflichtung gebunden und in der Regel nicht existenzsichernd. Ein Grundeinkommen dagegen steht allen Menschen ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne (Erwerbs-)Arbeitszwang bzw. ohne eine (Erwerbs-)Arbeits-/Tätigkeitsverpflichtung individuell garantiert zu. Es soll existenzsichernd sein und gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme ermöglichen. Sind diese fünf Kriterien erfüllt, können wir von einem bedingungslosen Grundeinkommen sprechen.
Wir haben in Deutschland mehrere Grundsicherungs-/Mindestsicherungsvorschläge[21]: Die bedarfsorientierte Grundsicherung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die Grundsicherung im Rahmen einer Bürgerversicherung von Michael Opielka und die Soziale Mindestsicherung der ötv (und den Mindestsicherungsvorschlag des letzten DGB-Bundeskongresses). Diese Vorschläge weichen mindestens in einem Kriterium von den genannten fünf Kriterien für Grund-/Mindestsicherungen ab, nähern sich also einem Grundeinkommen.
Wir haben in Deutschland sechs Vorschläge, die entweder äußerst nah an einem Grundeinkommen sind bzw. ein bedingungsloses Grundeinkommen darstellen: Das sind das Bürgergeld/Negative Einkommensteuer von Joachim Mitschke, das bedarfsunabhängige Grundeinkommen der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, das Grundeinkommen des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, das Grundeinkommen des Deutschen Bundesjugendringes, das Transfergrenzen-Modell von Pelzer/Fischer und das Existenzgeld der Bundesarbeitsgemeinschaft der unabhängigen Erwerbslosen und Sozialhilfeinitiativen. Nah am Grundeinkommen ist auch der Mindesteinkommensvorschlag der Europäischen Märsche.
Schindler/Möller argumentieren: Die Forderung nach einer Grund-/Mindestsicherung für alle ist „nur dann sinnvoll, wenn dahinter die aufrichtige Überzeugung steht, dass es sich bei den Folgen eines solchen Systems tatsächlich um keine unsolidarischen Effekte zu Lasten der im Produktionsprozess tätigen Bevölkerungsteile handelt.“ Wir meinen, dass erst ein Grundeinkommen das solidarische Verhalten der Nichterwerbstätigen mit den Erwerbstätigen und umgekehrt befördert: Das Grundeinkommen gewährleistet, dass kein Mensch aus Gründen der Einkommensnot mit der Annahme untertariflicher, Niedrigstlohn- und prekärer Arbeit anderen Erwerbstätigen unsolidarisch in den Rücken fallen muss. Ein Grundeinkommen ermöglicht den Erwerbstätigen wiederum, partiell und freiwillig auf Erwerbsarbeitszeit zu verzichten (sei es in Form von Teilzeitarbeit, kollektiver Arbeitszeitverkürzung oder Sabbatjahren etc.), weil das Grundeinkommen Lohneinbußen kompensiert. Grund-/Mindestsicherungen weisen dagegen diese solidarischen und für beide Seiten vorteilhaften Effekte nicht auf.
Verlassen wir die Logik von Schindler/Möller, gibt es weitere gute Gründe für ein Grundeinkommen, auch aus der oben entwickelten Marxschen Perspektive:
- Kapital und Lohnarbeit basieren auf vielen verschwiegenen Tätigkeiten: Erziehungs-, Bildungs-, Kommunikations-, Organisations- und Wissenstätigkeiten jenseits der Arbeit(szeit). Das heißt, die eigentliche Basis der Lohn-/Erwerbsarbeit und der darauf basierenden Mehrwertsicherung und -aneignung wäre durch ein Grundeinkommen zumindest in Ansätzen entgolten.
- Der an Marx orientierte Reichtumsbegriff begreift eben nicht den in der materiellen Produktion produzierten Reichtum als „Reichtum selbst“, sondern den in allen Tätigkeits- und Mußebereichen produzierten gesellschaftlichen, kulturellen und menschlichen Reichtum, den Reichtum an sozialen, demokratischen und Wissens-Fähigkeiten der Menschen. Ein Grundeinkommen befördert die immense Ausweitung der Autonomie der Menschen, der free time und der free activity, der darin sich frei entwickelnden Fähigkeiten. Diese wirken nun als Produktivkraft und demokratische Gestaltungskraft auf die materielle Produktion zurück (Aufhebung der Entfremdung). Ein Grundeinkommen ist die Basis der wahren Reichtumsmehrung, der Entwicklung der freien Individualität und natürlich der Demokratisierung der Arbeits- und Lebenswelt.[22]
- Ob der materielle Reichtum überhaupt einen Reichtum darstellt, wie Schindler/Möller unhinterfragt annehmen, ist nach Marx am Maß der individuellen Fähigkeitsentwicklung aller Gesellschaftsmitglieder zu messen. Nicht die bloße Ableistung von Arbeit(szeit), nicht tote Berge von Gütermüll, von umwelt- und gesundheitsgefährdenden Produkten, sind reichtumsmehrend. Im Gegenteil: Beides kann die Reichtums-, sprich Fähigkeitsentwicklung verhindern. Ein Grundeinkommen ermöglicht nun einerseits die (partielle) Verweigerung der Produktion von umwelt- und gesundheitsgefährdenden Gütern und Dienstleistungen, andererseits die Ausrichtung auf eine sozial, demokratisch und ökologisch sowie an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Produktion durch eine erhöhte Selbstbestimmung über Zweck, Inhalt und Grenze der materiellen Produktion (Aufhebung der Entfremdung).
Anstatt die Illusion Vollbeschäftigung vergeblich zur Vision hochzustilisieren, anstatt selbst-konstruierten Geisterdebatten über das Ende der Arbeit nachzuhängen, empfehlen wir die Reflexion der arbeitskritischen, emanzipatorischen linken Debatten – und der Debatten zum Grundeinkommen in und außerhalb des Netzwerkes Grundeinkommen.
Denn es geht doch um – das Gespenst des Grundeinkommens.
Katja Kipping, MdL, ist stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei.PDS und Sprecherin des Netzwerkes Grundeinkommen.
Ronald Blaschke ist Sprecher des Netzwerkes Grundeinkommen, Mitglied des bundesweiten Runden Tisches der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen und Sprecher der Sächsischen Armutskonferenz.
Fußnoten:
[1] Siehe Gruppe Krisis: Manifest gegen die Arbeit. 1997. S. 14 und 41ff.
[2] Dass die Postoperaisten dabei nicht zwischen wert- und mehrwertschaffender Arbeit unterscheiden, sondern den Kapitalismus in eine einfache warenproduzierende Gesellschaft zurückinterpretieren, wäre eine Kritik an deren Ansätzen. Ebenso die von André Gorz (mit Karl Marx) kritisierte Umkehrung des Sinns der Produktivkraftentwicklung der Menschen bei Antonio Negri. Diese Kritik können Schindler/Möller aufgrund ihrer theoretischen Unzulänglichkeiten nicht leisten.
[3] Das folgende Kapitel basiert im Wesentlichen auf den Beitrag von Ronald Blaschke: Weniger arbeiten! In: Ronald Blaschke, Jürgen Leibiger: Arbeitszeitverkürzung. Begründungen – Probleme – Lösungsansätze. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. Texte zur politischen Bildung, Heft 32. Leipzig 2004 (auch unter www.archiv-grundeinkommen. de).
[4] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1985. S. 192f. Hervorhebungen durch die AutorInnen des vorliegenden Beitrages.
[5] Die Vision einer attraktiven Arbeit hat Marx von utopischen Sozialisten übernommen, insbesondere von Charles Fourier.
[6] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1985. S. 192.
[7] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW. Band 42. Berlin 1983. S. 601.
[8] Ebenda. S. 601f. und 607.
[9] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: MEW. Ergänzungsband. Erster Teil. Berlin 1981. S. 516.
[10] Siehe Karl Marx: Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“). Dritter Teil. In: MEW. Band 26.3. Berlin 1974. S. 253.
[11] „Der reiche Mensch ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerungen bedürftige Mensch.“ (Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. 1844. In: MEW. Ergänzungsband. Erster Teil. Berlin 1981. S. 544).
[12] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW. Band 42. Berlin 1983. S. 607. (In der Handschrift steht Musezeit statt Mußezeit.). Marx kennt also sehr wohl auch antike Vorstellungen hinsichtlich des unterschiedlichen Stellenwertes von Tätigkeiten im Bereich der vita activa und des Stellenwertes der Muße.
[13] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“). Dritter Teil. In: MEW. Band 26.3. Berlin 1974. S. 252. Free activitiy und free time sind also Begriffe, die nicht mit dem alltagsüblichen Freizeit-Begriff identisch sind.
[14] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1984. S. 828.
[15] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“). Dritter Teil. In: MEW. Band 26.3. Berlin 1974. S. 253.
[16] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW. Band 42. Berlin 1983. S. 604.
[17] Nicht zu vergessen: Der Erhalt der natürlichen Umwelt ist ein weiteres Maß des materiellen Reichtums. Übrigens: In der Logik des sozial-ökologischen Maßes des materiellen Reichtums liegt die schrittweise Aufhebung des an die Arbeitszeit gekoppelten Wertgesetzes (siehe André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/ Main 2000. S. 129ff.)
[18] Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft. Berlin 2005. S. 24f.
[19] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW. Band 42. Berlin 1983. S. 602.
[20] Dieses Kapitel basiert im Wesentlichen auf folgenden Beiträgen: Ronald Blaschke: Garantierte Mindesteinkommen. Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen im Vergleich. Meißen/Dresden 2005 (auch unter www.archiv-grundeinkommen.de); ders.: Weniger arbeiten! In: Ronald Blaschke, Jürgen Leibiger: Arbeitszeitverkürzung. Begründungen – Probleme – Lösungsansätze. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. Texte zur politischen Bildung, Heft 32. Leipzig 2004, (auch unter www.archiv-grundeinkommen.de); ders.: Warum ein Grundeinkommen? Zwölf Argumente und eine Ergänzung. Dresden 2005 (unter www.archiv-grundeinkommen.de); ders.: Garantiertes Grundeinkommen. Entwürfe und Begründungen aus den letzten 20 Jahren. Frage und Problemstellungen. Dresden 2004 (unter www.grundeinkommen.de)
[21] Neben der realisierten Grundsicherung für Arbeitsuchende (Alg II/Hartz IV), der Sozialhilfe für Erwerbsunfähige und der Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte.
[22] André Gorz formuliert: „Eine Funktion des allgemeinen Grundeinkommens besteht darin, aus dem Anspruch auf die Entfaltung der Fähigkeiten jeder und jedes Einzelnen das unbedingte Recht auf eine Autonomie abzuleiten, die deren produktive Funktion transzendiert und Selbstzweck ist. Sie soll aus sich heraus und um ihrer selbst willen auf moralischer Ebene (als Autonomie des Werturteils) bestehen wie auf politischer (als Autonomie bei das Gemeinwohl betreffenden Entscheidungen), kultureller (als Erfindung von Lebensformen, Konsummodellen und Lebenskünsten) und existentieller Ebene (die Fähigkeit zur Selbstverantwortung und Selbstsorge, anstatt Sorge um das, was gut für uns ist, der Entscheidung von Experten und Autoritäten zu überlassen).“ (André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/Main 2000. S. 128).