Blaschke, Ronald: Grundeinkommen und Tätigkeitsgesellschaft. Gedanken über eine alternative Gesellschaft, 2010 (Vortrag in Seoul, Basic Income International Conference, Ende Januar 2010)
Ich werde im Folgenden eine mögliche Entwicklung einer Gesellschaft skizzieren, die vor folgendem Problem steht: Die weitgehend globalisierte kapitalistische Produktionsform ist aktuell mit drei Krisen beschäftigt – mit einer Wirtschaftskrise, die insbesondere eine Überproduktionskrise und Krise des globalisierten Finanzkapitals ist, einer Energie- und Umweltkrise und einer Sinnkrise hinsichtlich der primären Vergesellschaftung durch Erwerbs- und Lohnarbeit. Auf diese drei grundlegenden Krisen gibt es eine grundlegende Antwort: Es ist Zeit, dass der Mensch sich seiner primären Fähigkeit bewusst wird, nämlich seine Vernunft einzusetzen. Vernunft meint, sich darüber Gedanken zu machen, Ob, Was und Wie gesellschaftlich produziert und konsumiert werden kann und sollte. Normativ kann sich dabei an grundlegenden Werten orientiert werden: Pluralität der menschlicher Lebens- und Sinnvollzüge, individuelle Freiheit und freie Fähigkeitsentwicklung sowie ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit der Produktion und Konsumtion. Vor diesem Hintergrund sollen die Überlegungen um das Grundeinkommen und eine Tätigkeitsgesellschaft angestellt werden.
Unter Grundeinkommen verstehe ich im Folgenden ein Unconditional Basic Income strong (UBI strong). Unter Arbeitsgesellschaft verstehe ich eine Gesellschaft, in der die Mitglieder primär durch Erwerbs- und Lohnarbeit (Marktarbeit) vergesellschaftet und sowohl moralisch als auch monetär anerkannt werden. Unter Tätigkeitsgesellschaft verstehe ich eine Gesellschaft, in der die moralische und monetäre Anerkennung sowie Vergesellschaftung der Mitglieder der Gesellschaft in pluralen Aktivitäts- und Tätigkeitsformen der Menschen erfolgt. Vordenker einer solchen Gesellschaft waren die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975), der deutschbritische
Soziologe Ralf Dahrendorf (1929 – 2009), der österreichisch-französische Philosoph André Gorz (1923 – 2007) und die deutsche marxistisch-feministische Soziologin und Philosophin Frigga Haug (geb. 1937). Aktivitäten und Tätigkeiten sind z. B. die Erwerbs- und Lohnarbeit (Marktarbeit), private als auch öffentlich-solidarökonomische Formen der Eigenarbeit bzw. Subsistenz, private Formen der Familien-, Sorge-, Erziehungs- und Pflegearbeit, bürgerschaftliches (öffentlichpolitisches) Engagement, Muße und Bildung in privaten und gemeinschaftlichen, aber nicht institutionalisierten und in öffentlichen, institutionalisierten Zusammenhängen. Eine Tätigkeitsgesellschaft ist aber erst dann eine freie Tätigkeitsgesellschaft, wenn die Kombinationen und Wechsel zwischen den verschiedenen Aktivitäts- und Tätigkeitsformen im Laufe des Lebens und des Alltags in freier individueller Entscheidung erfolgen – natürlich unter Berücksichtigung bestimmter sachlicher Notwendigkeiten und in Abstimmung mit Kooperierenden. In einer Arbeitsgesellschaft sind dagegen die pluralen Aktivitäts- und Tätigkeitsformen sowohl in ihrer konkreten Ausrichtung als auch in ihrer Zweckhaftigkeit an der Erwerbs- und Lohnarbeit orientiert und dieser bezüglich der moralischen und monetären Anerkennung nachgeordnet.
Die Arbeitsgesellschaft und gesellschaftliche Krisen
Eine Gesellschaft, die primär dasjenige wertschätzt, was marktvermittelte und angeblich wertschöpfende Tätigkeiten (Erwerbs- und Lohnarbeit) sind, muss – in Zeiten des Überflusses an produzierbaren materiellen Dingen – zwangsläufig in permanente und zyklische Überproduktionskrisen schlittern. Das liegt daran, dass in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbs- und Lohnarbeit primär die Funktion hat, Mehrwert bzw. Profit zu realisieren und somit die Produktion und Konsumtion anheizt. Die Überproduktion äußert sich in der künstlichen Ausdehnung der marktvermittelten Produktions- und Konsumtionssphäre und damit verbundener Ausbeutung und Verschwendung natürlicher Energie- und Naturressourcen und menschlicher Fähigkeiten. Dies geschieht durch erstens ständige Produkt- und Dienstleistungserneuerungen und kürzere Vernutzungszeiten von Produkten und Dienstleistungen. Die kürzeren Vernutzungszeiten sind durch Moden und Designs sowie durch bewußt verkürzte technische Haltbarkeiten erzeugt. Zweitens ist eine Ausweitung der marktvermittelten Tätigkeiten bis hinein in die zwischenmenschlichen Bereiche der Sorge, Pflege, Erziehung, der alltäglichen Sozialisation und in die Körperlichkeit festzustellen. Entscheidend für die Ausweitung der marktvermittelten Produktion und Konsumtion in Zeiten des Überflusses ist zum Einen die künstliche Produktion von Bedürfnissen. Das geschieht, indem Menschen zu konsumierenden und ständig Neues konsumierenden Wesen sozialisiert bzw. gebildet werden, um die angeblich wertschöpfende Marktproduktion am Laufen zu halten. Außerdem müssen für die Gestaltung (Design) und die Bewerbung von Produkten und Dienstleistungen immense Finanzmittel und natürliche Ressourcen verschwendet werden, um deren Konsumfähigkeit künstlich zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. Die zweite, parallel stattfindende Methode des Am-Laufen-Halten marktvermittelter Produktion und Konsumtion ist die künstliche Verknappung und bürokratische, kostenintensive Vorenthaltung von Mitteln der Existenzsicherung, sei es durch Privatisierung von natürlichen Subsistenzmitteln (z. B. Boden, Wasser, natürliche Heilmittel) oder durch die Vorenthaltung monetärer Transfers zur Existenz- und Teilhabesicherung in ausgeprägten Geldgesellschaften. Eine Folge der Überproduktion in einer vom materiellen Überfluss geprägten Welt ist auch die Flucht von Finanzmitteln in den spekulativen Finanzsektor zwecks leistungsloser Geldsicherung und -vermehrung, weil produktiv-investive Anlagen nicht mehr eine ausreichende bzw. sichere Profitrate sichern. Auf der Seite der Habenichtse dagegen ist die Kreditaufnahme und Überschuldung zwangsläufig, wenn grundlegende natürliche Subsistenzmittel und monetäre Existenz- und Teilhabemittel machtpolitisch verweigert werden. Beide Formen (Spekulation, Überschuldung) führten zur letzten Finanzkrise, die eine teilweise und kurzzeitige Bereinigung des Marktes von unsinniger Produktion bewirkte. Die global sich verschärfende Massenarbeitslosigkeit bzw. Sockelarbeitslosigkeit wird von einer schnell steigenden Spitze der Erwerbslosigkeit überformt – je nach nationaler Verfasstheit der Kapital- und Erwerbswirtschaft und deren Einbindung in transnationale bzw. globale Wirtschafts- und Finanzmarktprozesse.
Krise der Arbeitsgesellschaft und marktkonforme Krisenbewältigung
Angesichts der zu erwartenden krisenhaften Auswirkungen im Bereich der Erwerbs- und Lohnarbeit wurden in Deutschland zwei Formen der Stabilisierung der Arbeitsgesellschaft angewendet, die ihrer Marktkonformität entkleidet, Vorboten einer Grundeinkommensgesellschaft sein könnten:
a) Es wurde an Besitzer eines mindestens neun Jahre alten Automobils eine sogenannte Abwrackprämie (Verschrottungsprämie) gezahlt, wenn diese ein neues Auto kauften – eine Prämie, die ohne eine Arbeitsgegenleistung und ohne einen Bedürftigkeitsnachweis gezahlt wurde. Ziel war es, die Autoindustrie vor der größten wirtschaftlichen Pleite zu bewahren. Denn weder Menschen noch Natur können soviel Autos verkraften, wie produziert werden können.
b) Unternehmen, deren Auftragsvolumen krisenbedingt zurückging und die deswegen kürzere Arbeitszeiten ihren Beschäftigten anordneten, können für diese Beschäftigten das sogenannte konjunkturbedingte Kurzarbeitergeld für ein bestimmten Zeitraum bei der Arbeitsbehörde beantragen. Diese Behörde zahlt den Beschäftigten dann einen Ausgleich in Höhe von 67 Prozent (Arbeitnehmer mit Kind) bzw. 60 Prozent (Arbeitnehmer ohne Kind) für den ausfallenden Nettolohn – eine Geldleistung ohne Arbeitsgegenleistung oder einen Bedürftigkeitsnachweis. Die Beschäftigten mit Kurzarbeitergeld erscheinen nicht in der Arbeitslosenstatistik. Diese Methode der Existenzsicherung (und statistischen Schönfärberei) wurde nach der Maueröffnung im großen Stile für ostdeutsche Beschäftigte genutzt. Die aufgrund der erhöhten Produktion und der Konkurrenz im Westen Deutschlands nunmehr auftragslosen Firmen in der DDR ordneten für ihre Beschäftigten Null-Stunden-Kurzarbeit an. Der somit vollkommen ausfallende Lohn wurde ebenfalls in der genannten Höhe von dem Arbeitsamt an die Beschäftigten gezahlt – ohne eine Arbeitsgegenleistung oder einen Bedürftigkeitsnachweis.
Dies sind zwei Beispiele (Abwrackprämie, Kurzarbeitergeld), wie in Krisenzeiten für bestimmte Personenkreise grundeinkommensähnliche Transfers ermöglicht werden – allerdings nicht, um eine freie Tätigkeitsgesellschaft zu gründen, sondern um eine kriselnde Arbeitsgesellschaft zu stabilisieren. Dennoch sind es Vorboten eines Grundeinkommens in einer Gesellschaft, die mit immer weniger Einsatz menschlicher Arbeitskraft die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen absichern kann.
Die freie Tätigkeitsgesellschaft mit Grundeinkommen als Kulturgesellschaft
Der Sozialphilosoph André Gorz verwies zur Begründung eines UBI strong auch auf das sogenannte Paradies-Paradox des russisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Wassily Leontief (1905 – 1999) hin: Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die aufgrund weitgehender Automatisation mit immer weniger Anwendung lebendiger Arbeitskraft ausreichend Güter und Dienstleistungen produziert. Die Menschen könnten trotz des vorhandenen Überflusses dann nicht diese Güter und Dienstleistungen nutzen, würden sogar verhungern. Denn sie bekämen aufgrund der traditionellen Kopplung von Arbeit und Einkommen kein Einkommen. Sie erwerbsarbeiten ja kaum noch oder nicht mehr. Die französischen Distributionisten haben daher bereits vor ca. achtzig Jahren für ein „Konsumgeld“ plädiert – das heißt für ein Grundeinkommen zur Sicherung der individuellen Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe unabhängig von geleisteter bzw. zu leistender Arbeit. Diese dekommodifizierte Form von Ressourcenverteilung durch das „Konsumgeld“ fand in einem umfassenden Diskussionsprojekt zur pluralen Ökonomie in der französischen Zeitschrift transversales einen Platz neben drei weiteren diskutierten Geldarten. Natürlich setzt diese Form der Distribution voraus, dass sowohl die Produktion, die durch Automatisation rationalisiert wird, wie auch die Distribution selbst demokratisch organisiert wird. Damit wären wir bei dem Thema Organisation einer Gesellschaft, die demokratisch über das Ob, Was und Wie der gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion entscheidet. Die also die materielle und immaterielle Produktion unter ihre Kontrolle nimmt, anstatt von der marktdominierten Produktion und Konsumtion getrieben von Krise zur Krise zu stolpern – letztlich in die Krise des gesamten Ökosystems und in bürgerkriegsähnliche Zustande sowie Migrationsbewegungen im Kampf um die Existenzsicherung und um die letzten noch nutzbaren natürlichen Ressourcen.
Das Grundeinkommen (UBI strong), als eine monetäre Form der Existenz- und Teilhabesicherung, kann mehr sein als ein „Konsumgeld“. Es kann die freie Entscheidung über Kombinationen verschiedener privater und öffentlicher Aktivitäten und Tätigkeiten der Menschen im Laufe des Lebens und im Alltag ermöglichen. In Verbindung mit einer radikalen Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, mit dem Ausbau von freien Zugängen zu öffentlichen Gütern wie Wissen und Bildung, zu natürlichen und technischen Gütern für weitgehend subsistenzwirtschaftliche solidarische Ökonomien und zu öffentlichen Infrastrukturen (selbst organisierbaren Kulturstätten, Werkstätten, Ateliers) öffnet es die Tür zu einer freien Tätigkeitsgesellschaft – mit André Gorz gesprochen, zu einer Kulturgesellschaft. Das ist eine Gesellschaft, die der freien Entwicklung der kulturellen, sozialen und politischen, produktiven und kreativen, aber lebensdienlichen Fähigkeiten der Menschen immer Raum und Zeit gibt. Dies wäre eine Zielstellung, die der deutsch-amerikanische Sozialphilosoph Erich Fromm (1900 – 1980) auch mit seinem Grundeinkommenskonzept verfolgte. Daran können wir uns mit Hochachtung im 110. Geburtsjahr und 30. Todesjahr von Erich Fromm erinnern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Grundeinkommens, ich danke für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.