Blaschke, Ronald: Für ein Grundeinkommen, wider die Froschperspektive, 2010 (Beitrag mit Katja Kipping in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 6/2010)
In der April-Ausgabe 2010 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ kritisierte Daniel Kreutz die Idee eines Grundeinkommens nicht zuletzt mit ihrer Instrumentalisierbarkeit: Weil das Grundeinkommen von neoliberaler Seite missbraucht werden könne, sollten Linke lieber die Finger davon lassen. Darauf antworten Katja Kipping und Ronald Blaschke: „Für ein Grundeinkommen, wider die Froschperspektive“ (in „Blätter“ 6/2010, Seite 37-40)
Die Argumente gegen das bedingungslose Grundeinkommen, die Daniel Kreutz wiederholt, und die Ignoranz emanzipatorischer Grundeinkommenskonzepte sind schon mehrmals in verschiedenen Publikationen kritisiert worden. Daher soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden.[1] Nur einem offensichtlich zentralen Kritikpunkt soll entgegnet werden: der möglichen Instrumentalisierbarkeit des Grundeinkommens durch Neoliberale. In der Tat gibt es viele linke Projekte, die in der Vergangenheit von den „Freunden des Kapitalismus“ umgedreht wurden: Aus den linken Grundsicherungsansätzen der 90er Jahre wurde unter der Regierung Schröder/Fischer gemeinsam mit CDU/CSU und FDP die Grundsicherung für Arbeitsuchende, genannt Hartz IV. Aus den SPD- und PDS-Vorschlägen zur öffentlich geförderten Beschäftigung wurde die massenhafte Ausweitung der Ein-Euro-Jobs. Und die lange Zeit in emanzipatorischer Absicht geforderte Arbeitszeitverkürzung führte in der Regel zu Arbeitsverdichtung und Prekarisierung. Kurzum: Werden nur einige, wichtige Stellschrauben an linken Ansätzen durch die „Freunde des Kapitalismus“ gedreht und politisch durchgesetzt, kann sich die Wirkung des Ganzen ins Gegenteil verkehren.
Und dennoch sollte die Linke nicht aufhören, ihre politischen Ideen gegen neoliberale in Stellung zu bringen.
Das gilt auch für das Konzept des Grundeinkommens. Dabei handelt es sich um einen monetären Transfer, den sich die Menschen gegenseitig zuerkennen. Er ist jedem Menschen individuell garantiert, wird ohne sozialadministrative Bedürftigkeitsprüfung und ohne Zwang zu Arbeit und Gegenleistung in existenz- und teilhabesichernder Höhe gewährt. Die Idee des Grundeinkommens kann auf eine über 200 Jahre alte Debatte zurückschauen: Die Erste, die ein solches Grundeinkommen forderte, war eine Frau. Thomas Spence ließ sie im Dialog mit einem Landaristokraten in seiner Streitschrift von 1796 nicht nur die „Die Rechte der Kinder“, sondern auch die sozialen Rechte eines jeden Menschen einfordern. Ihre Begründung lautete: Jeder Mensch, der sich der allen gehörigen Naturgüter bediente, hat den Miteigentümern dieser Naturgüter einen Anteil an der genutzten Naturressource zuzuerkennen.[2]
Diese naturrechtliche Begründung für ein Grundeinkommen wurde später um die kulturhistorische Begründung ergänzt. Letztere argumentiert analog zu ersterer: Diejenige Person, die sich des allen Menschen gehörigen kulturhistorischen Erbes – wie Wissen oder dessen Vergegenständlichung in Technik, wie Sozialkompetenzen und Formen der Arbeitsorganisation – bedient, hat den Miteigentümern ihren Anteil an dem genutzten Erbe zuzuerkennen.
Damit wird auch die These des englischen Philosophen John Locke bestritten, dass die beim Arbeiten genutzten gemeinsamen Güter durch die Anwendung von Arbeit zum Privateigentum werden. John Locke ging es bei der bürgerlichen Verherrlichung von Arbeit vor allem um eines: die Rechtfertigung des Privateigentums. Dazu wurde das urliberale Argument, dass der Körper, dessen Aktivitäten und Handlungen nur dem Einzelnen gehören, unzulässig vermengt mit dem Argument, dass das vom eigenen Körper zur Bearbeitung Genutzte infolge der Arbeit privates Eigentum werde. Das eine begründet aber keineswegs das andere. Die Lockesche Argumentation, dass Arbeit die Quelle des privaten Eigentums sei, ist also mehr als kritikwürdig. Dagegen ist zu halten: Individuelle (und auch kollektive) Arbeit ist sowohl von der Aneignungs- als auch von der Verteilungsfrage her schon immer gesellschaftliche Produktion, weil es allen gehörige Güter nutzt und daher in einem bestimmten Maß auch allen gehörige Güter schafft.
Noch besser kann die bürgerliche Privatisierungsideologie von John Locke vor dem Hintergrund eines erweiterten Arbeits- bzw. Tätigkeitsbegriffes und angesichts der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung kritisiert werden: In einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft kann der Leistungsbetrag des Einzelnen am Produkt kaum noch realistisch bestimmt werden. Alle scheinbar individuellen Produktionen sind in ein komplexes Geflecht bezahlter und unbezahlter Tätigkeiten und Kooperationen eingebunden. Auch ignorieren nur noch patriarchalisch geprägte Zeitgenossen den Beitrag der familialen und partnerschaftlichen Sorge- und Erziehungsarbeit, der dafür verantwortlich ist, dass Menschen überhaupt zu so etwas wie einer produktiven Leistung fähig sind. Ähnlich kann bezüglich des bürgerschaftlichen Engagements vieler Menschen festgestellt werden, dass deren Beitrag für den sozialen Zusammenhalt eine grundlegende Voraussetzung ist, ohne die heute keine Gesellschaft halbwegs vernünftig funktionieren, geschweige denn produzieren, könnte. Und zu guter Letzt müssen wir auch die Zeiten der Muße und Geselligkeit in Betracht ziehen, die den einzelnen Menschen zum produktiven Tun befähigen.
Es zeigt sich also, dass das produktive Tun des Einzelnen in der Arbeit auf der Grundlage des gemeinsamen Kulturerbes, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der familialen und partnerschaftlicher Erziehungs- und Sorgearbeit, des sozialen Aushandelns von Gesellschaftlichkeit im bürgerschaftlichen Engagement und der Mußezeit steht. Die private, kapital- oder erwerbsbildende Aneignung der Produktionsergebnisse durch Einzelne oder Kollektive ist also sehr voraussetzungsvoll. Die Vogelperspektive auf eine kapitalistisch geprägte Gesellschaft, die Daniel Kreutz in seinem Beitrag einzunehmen meint, entpuppt sich daher als eine von der bürgerlichen Privatisierungslogik bestimmte Froschperspektive auf das individuelle Dasein und die gesellschaftliche Produktion.
Aus der Froschperspektive heraus sind die mit der Lockeschen Aneignungs- und Leistungslogik verbundenen zwei Seiten der entfremdeten Arbeit nicht kritisch reflektierbar: Kapital und Lohnarbeit. Wer die Dominanz dieser entfremdeten Formen der Aneignung gemeinschaftlicher Güter in der heutigen Gesellschaft aber nicht erkennt, kann die transformatorische Perspektive von Karl Marx nicht denken. Diese Perspektive richtet sich in ihrer Kritik der Markt- und Warenförmigkeit privateigentümlicher Produktivität auf eine Aufhebung der Unterordnung menschlichen Daseins unter die Bedingungen von Kapitaldominanz und Lohnabhängigkeit.
Das bedingungslose Grundeinkommen bricht nun auf einer grundsätzlichen Ebene mit diesen Bedingungen: Die individuelle Existenz- und Teilhabesicherung wird von der Privatisierungslogik der individuellen tausch- und mehrwertschöpfenden Arbeitsleistung entkoppelt. Das Brutale der bürgerlichen Aneignungs- und Leistungslogik ist, dass sie nicht nur den Nutzen des Menschen überhaupt kalkuliert, sondern das Nützliche eines Menschen auf dessen Leistung und Verwertbarkeit in der Waren- und Marktgesellschaft reduziert. Eine davon abgeleitete Sozialstaatlichkeit vollstreckt diese Logik selbst noch am länger vom (Arbeits-)Markt Ausgegrenzten. Dieser muss seine Bedürftigkeit nachweisen, sich als Armer selbst öffentlich anzeigen, um sein Recht auf Teilhabe an den gemeinsamen Gütern einzuklagen. In diesen beiden Punkten, im Vermarktungszwang und in erzwungener Selbststigmatisierung, äußert sich der strukturelle Nützlichkeitsrassismus, der neben dem ideologischen und sozialpsychologischen Nützlichkeitsrassismus in der heutigen Gesellschaft besteht.[3]
Individuelle Freiheit dagegen beinhaltet die Freiheit von Existenznot, von Vermarktungs- und Selbststigmatisierungszwang. Sie impliziert aber auch die positive Freiheit, sich produktiv zu entfalten. Produktiv ist das, was die konkreten Möglichkeiten, die dem Gegenstand des Tuns und dem Tätigen selbst innewohnen, zur Entfaltung bringt. Dort, wo der Gegenstand des Tuns, die allen gehörige Natur, geschädigt oder gar zerstört wird, ist das Ziel verfehlt. Auch dort ist das Ziel verfehlt, wo der Mensch klein gehalten oder verbogen wird, er seine Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht entfalten kann. Karl Marx sprach von der Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Der humanistische Ansatz bei Marx besteht darin, dass die Transformation der Gesellschaft genau diesem Ziel der produktiven Entfaltung und damit der individuellen Freiheit verpflichtet sein muss.
Die volle Entwicklung der individuellen Fähigkeiten aber ist ohne Selbstbestimmung nicht denkbar – und damit auch nicht ohne Mitbestimmung über alle gesellschaftlichen Bedingungen, die die eigene Person und das eigene Leben betreffen. Das heißt: Neben dem bedingungslosen Grundeinkommen sind die radikale Demokratisierung der Finanz-, Wirtschafts- und Konsumtionssphäre, die demokratische Selbstverwaltung der Produktionsstätten, die Demokratisierung öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen und selbst der monetären Transfersysteme (wie die paritätisch finanzierte Bürgerversicherung oder das Grundeinkommen) voranzutreiben. Diese Aneignung durch eine radikale Demokratisierung bricht ebenfalls mit der Dominanz von Kapital und Lohnarbeit und davon abgeleiteter, exkludierender Sozialstaatlichkeit. Sie nimmt Abschied von der exklusiven bürgerlichen Logik, derzufolge nur diejenigen mitbestimmungsberechtigt und -befähigt sind, die als Steuerbürger, Eigentums- bzw. Arbeitsbürger oder Staatsbürger dazu berechtigt sind.[4] Bürgerin bzw. Bürger im modernen und aktiven Sinn ist der Mensch, der die Bedingungen seines eigenen Lebens im öffentlichen solidarischen Wettstreit mit anderen aushandelt und gestaltet – also faktisch jeder Mensch, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Eine demokratische Gesellschaft ist also – im Gegensatz zur bürgerlich-privateigentümlichen Erwerbs- oder Marktgesellschaft – sozial integrativ und reduziert den Menschen nicht auf eine Ware und einen Warenproduzenten.
Das Grundeinkommen befördert nun die Demokratisierung. Denn es ist eine Pauschale, die ökonomische Abhängigkeiten des Menschen aufhebt. Mit dem emanzipatorischen Grundeinkommen ist aber nicht nur die Umverteilung von materiell gegründeter Aushandlungs- und Entscheidungsmacht zugunsten aller Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Umverteilung weiterer notwendiger Ressourcen für die freie Entwicklung jedes Einzelnen und aller Menschen verbunden – in zeitlicher, materieller, monetärer wie auch in infrastruktureller Hinsicht. Dem Grundeinkommen zur Seite stehen daher geeignete Ansätze zur Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit und ein gesetzlicher Mindestlohn, Bürgerversicherungen, Zugänge zu infrastrukturellen Ressourcen für freie Betätigungen, zu Bildung, Wissen, Kultur, öffentlicher Mobilität und Gesundheitsversorgung.[5]
In einer demokratischen Gesellschaft ist Solidarität tatsächlich keine Einbahnstraße. Zur Solidarität gehört in dieser Gesellschaft die Gemeinsamkeit ebenso wie die individuelle Freiheit. Eine erzwungene „Solidarität“ ist keine Solidarität, sondern Zwang. Eine „Solidarität“, die eine Gegenleistung unter Androhung des Entzugs der individuellen Existenz- und Teilhabsicherung einfordert, ist schlicht Erpressung. Das bedingungslose Grundeinkommen dagegen ermöglicht den Abschied von derart erzwungenen Scheinsolidaritäten, sowohl in ökonomischen Kooperationen und politischen Bündnissen als auch in partnerschaftlichen Beziehungen.
Eine moderne demokratische Gesellschaft kann nur aufbauen auf einer Pluralität der Individuen und ihrer Tätigkeits- und Teilhabeformen. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens erkennt an, dass der Streit um gemeinsame Ziele und Wege ohne Gewalt oder grundlegende ökonomische Zwänge zwischen den freien Individuen auszuhandeln ist. Es steht für den konsequenten Bruch mit der bürgerlich-privateigentümlichen Aneignungs- und Leistungslogik – und für den Aufbruch in demokratische Aneignung.
[1] Vgl. z. B. Ronald Blaschke, Bedingungsloses Grundeinkommen versus Grundsicherung, rls-Standpunkte 15/2008, und Katja Kipping, Ausverkauf der Politik. Für einen demokratischen Aufbruch, Berlin 2009, S. 131 ff. Eine gute Übersicht über unterschiedliche Grundeinkommenskonzepte findet sich in Ronald Blaschke, Aktuelle Ansätze und Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen in Deutschland. Vergleichende Darstellung, in: Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hg.): Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten, Berlin 2010, S. 301-382.
[2] Vgl. Ronald Blaschke, Denk’ mal Grundeinkommen! Geschichte, Fragen und Antworten einer Idee, in: Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hg.) 2010, S. 51 ff.
[3] Vgl. Katja Kipping 2009, S. 92 ff.
[4] Wolfgang Engler, Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005, S. 139 ff.
[5] Vgl. das Konzept der BAG Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE und das Konzept von Attac, AG Genug für alle.