Das bedingungslose Grundeinkommen – gute oder schlechte Idee? Armutsforscher Christoph Butterwegge hält es auch in Pandemiezeiten für ungeeignet, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Ronald Blaschke, Erziehungswissenschaftler und Philosoph, hält vehement dagegen. Veröffentlichung in Kontext:Wochenzeitung Ausgaben 582, 25.05.2022
In Kontext-Ausgabe 581 wiederholt Christoph Butterwegge in einem Beitrag zur Pandemie und zum Sozialstaat seine bekannten Thesen gegen das Grundeinkommen. Die allerdings sind ebenso widersprüchlich wie seine Reformideen und verkennen die Grundeinkommensdebatte gründlich.
Einig bin ich mit Christoph Butterwegge darin, dass die Covid-19-Pandemie diejenigen am meisten getroffen hat, die eh schon in Armuts- und prekären Verhältnissen gelebt haben. Butterwegge leitet unter anderem daraus ab, dass der Sozialstaat reformiert werden muss: „Längerfristig geht es um die Schaffung eines inklusiven Sozialstaates, der auf einer solidarischen Bürgerversicherung und einer bedarfsgerechten, armutsfesten und repressionsfreien Grundsicherung als geeigneter Alternative zum bedingungslosen Grundeinkommen basiert.“
Bevor ich die Grundzüge eines Grundeinkommens darstelle und Butterwegges Kritik am Grundeinkommen widerlege, ein Verweis auf die Inkonsistenz des Vorschlags von ihm: Die Bürgerversicherung ist eine Kranken- und Pflegeversicherung, die alle einschließt. Sie ist also inklusiv und universell. Die existenzielle Absicherung soll aber eine Grundsicherung sein, also nur Bedürftigen nach einer sozialadministrativen Einkommens- und Vermögensprüfung gewährt werden. Das ist das Gegenteil von universell, es ist auch nicht inklusiv. Forschungsarbeiten von renommierten Armutsforscher:innen zeigen, dass bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen Anspruchsberechtigte massenhaft vom Bezug der Grundsicherung ausschließen – wegen ihres stigmatisierenden und diskriminierenden Charakters: Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) sind es bis zu 50 Prozent, bei der Grundsicherung im Alter bis zu 68 Prozent. Grundsicherungen sind exkludierend. Sie verfehlen ihre grundrechtliche Funktion, vor Armut und sozialer Ausgrenzung zu schützen.
Auch wenn die Grundsicherung, wie Butterwegge es wünscht, repressionsfrei sein soll – es bleibt der stigmatisierende und diskriminierende Charakter, der die Ausschlüsse verursacht. Darüber hinaus: Grundsicherungen sind Minderheitenrecht. Sie stehen unter Rechtfertigungsvorbehalt und bieten neoliberalen Sozialstaatsschleifern beste Gelegenheit, der „parasitären Minderheit“ die steuerzahlende Mehrheit gegenüberzustellen. Letztlich sind bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen, die ein Minimum an Existenzsicherung und Teilhabe ermöglichen sollen, eine sozialstaatliche Konstruktion, die die Gesellschaft spalten – auch Butterwegges Grundsicherung.
Ein inklusives Sozialsystem hebt Spaltung auf
Anders dagegen überwinden universelle Transfers oder Dienstleistungen diese Spaltung – weil sie allen bedingungslos zustehen. Ein inklusives und universelles Sozialsystem steht auf drei Säulen: einem Grundeinkommen, einer Bürgerversicherung und gebührenfreien Zugängen zu öffentlicher, sozialer Infrastruktur und Dienstleistung. Alle drei Säulen sind gleichen Grundprinzipien verpflichtet: Sie sollen für ihren jeweiligen Bereich bedingungslos das Notwendige zur Absicherung der Existenz und Ermöglichung der Teilhabe bieten. Sie sind individuell garantiert und ohne eine Bedürftigkeitsprüfung und ohne einen Zwang zur Arbeit oder anderen Gegenleistungen zugänglich.
Am Beispiel der Bürgerversicherung, die wesentlicher Bestandteil der meisten Grundeinkommenskonzepte ist, verdeutlicht: Eine ausreichende Gesundheitsvorsorge und -versorgung wird allen gewährt. Unabhängig davon, ob man erwerbstätig ist oder nicht oder es sein will, unabhängig vom Geldbeutel, vom Einkommen und Vermögen, ob man eine Eigentumswohnung hat oder nicht (also ohne Bedürftigkeitsprüfung), unabhängig davon, welchen Familienstand man hat und welchem Haushalt man angehört (also individuell garantiert). Oder am Beispiel der gebührenfreien Zugänge zu öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistung verdeutlicht: Zugang zu Beratungsangeboten, zu Schule und Studium bis hin zur öffentlich organisierten Mobilität (zum Beispiel gebührenfreier ÖPNV) wird allen individuell ohne eine Bedürftigkeitsprüfung, ohne Prüfung der Partnerschaftsverhältnisse und ohne einen Zwang zur Arbeit gewährt.
Der den Linken nahestehende Christoph Butterwegge kennt alle diese politischen Ansätze, weiß um deren universellen und inklusiven Charakter – nur beim Grundeinkommen tut er sich schwer. Er meint, es wäre ungerecht, wenn Personen mit hohem Einkommen und Vermögen das gleiche bekämen wie Ärmere. Für seine Bürgerversicherung hat er aber selbst die Lösung dieses scheinbaren Gerechtigkeitsproblems beschrieben: Alle zahlen entsprechend ihrer gesamten Einkommen in die Bürgerversicherung ein: „die Bürgerversicherung [schafft] zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich“. Nicht anders ist es bei den anderen beiden Säulen des inklusiven und universellen Sozialsystems: Zu deren Finanzierung werden ebenfalls alle entsprechend ihrer Einkommen und Vermögen herangezogen. Der stigmatisierende und diskriminierende Sozialstaat wird so in einen emanzipatorischen und solidarisch ausgleichenden umgewandelt – jedem Menschen wird die grundlegende existenzielle Absicherung und die gesellschaftliche Teilhabe bedingungslos ermöglicht. Finanziert wird dieser Sozialstaat durch eine solidarische Umverteilung, ausgestaltet in einem demokratischen Verfahren.
„Und was ist mit einem Menschen, der ein Handikap hat und schwerstbehindert, also etwa blind ist?“ Diese Frage, die Butterwegge gegen ein Grundeinkommen richtet, ist einfach beantwortet: Alle drei Säulen eines inklusiven und universellen Sozialsystems beinhalten für bestimmte Personengruppen Sonderleistungen und -angebote, die die konkrete Lebenslage berücksichtigen, aber unabhängig von einer Bedürftigkeitsprüfung gewährt werden: zum Beispiel gesonderte Geld- und Assistenzleistungen, gesonderte Gesundheitsvorsorge- und -versorgungsleistungen bis hin zu barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln, Beratungs- und Bildungseinrichtungen.
Finanzierbare Konzepte gibt es
Und damit sind wir beim weiteren Manko der Argumentation von Butterwegge: Seine Kenntnis von Grundeinkommenskonzepten ist äußerst mangelhaft. Er bräuchte sich nur zu belesen bei den Grundeinkommenskonzepten der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen der Linken, der Partei Demokratie in Bewegung, beim Konzept der Attac-AG „Genug für alle“ oder der „Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen“. Dann würden sich viele weitere seiner Argumente in Luft auflösen, zum Beispiel das vom Grundeinkommen als angeblicher Alternative zur Bürgerversicherung. Auch würden sich Unterstellungen schnell als solche entpuppen; zum Beispiel, dass mit dem Grundeinkommen das Wohngeld, also ein Ausgleich im Falle hoher Wohnkosten, wegfallen würde. Ebenso wäre die Behauptung vom Tisch, dass in Grundeinkommenskonzepten die Kosten unterschätzt oder gar nicht erst thematisiert würden. Viele Grundeinkommenskonzepte sind zum Teil bis ins Detail berechnet. Sie würden zu keiner exorbitanten Erhöhung der Staatsquote führen. Diese würde sich lediglich auf einem Niveau von Frankreich oder Belgien einpegeln, und zwar inklusive Ausgaben fürs Grundeinkommen und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistungen.
Das Argument Butterwegges, dass sich Grundeinkommensbefürworter:innen bei der Finanzierung nicht einig seien, befremdet: Ist doch klar, dass einem Zukunftsprojekt wie dem Grundeinkommen ein demokratischer Wettstreit über die beste Umsetzung innewohnt. Übrigens genauso wie bei der Bürgerversicherung, die auch in verschiedenen Ausgestaltungs- und Finanzierungsvarianten diskutiert wird. Das aber verschweigt Christoph Butterwegge.
Ein weiteres Argument gegen das Grundeinkommen ist ebenfalls nicht durchdacht: „Wo bliebe die Gerechtigkeit, wenn das Mitglied einer Landkommune in Schleswig-Holstein ohne nennenswerte Wohnkosten denselben Geldbetrag wie ein alleinstehender Arbeitnehmer erhalten würde, der in Stuttgart keine bezahlbare Mietwohnung findet?“ Neben dem Fakt, dass zum Ausgleich für sehr hohe Wohnkosten das Wohngeld zuständig bleibt, birgt diese Frage in ihrer logischen Konsequenz doch erhebliche Sprengkraft für bestehende sozialstaatliche Regulierungen: Die Konsequenz wäre nämlich, dass Tarif- und Mindestlöhne in der Höhe abhängig von den jeweiligen Wohnkosten und der Haushaltsituation gemacht werden müssten. Wäre es denn nach Butterwegge nicht ebenso ungerecht, wenn der Lohn eines Mitglieds einer Landkommune ebenso hoch ist, wie der Lohn eines alleinstehenden Arbeitnehmers in Stuttgart? Möchte Butterwegge Tarif- und Mindestlöhne abschaffen und ersetzen durch individuell ausgehandelte, von jeweiligen Wohnkosten und jeweiliger Haushaltssituation abhängige Löhne? Ein anderes Gegenargument träfe Butterwegges Vergleich von Gemeinschaften mit mehreren Personen und einer alleinstehenden Person: Ja, ausreichende pauschalierte Sozialleistungen oder tarifvertraglich geregelte Einkommen unterscheiden nicht nach Haushaltsgröße. Zusammenleben und Zusammenwohnen – egal ob als WG oder Familie oder in loser Partnerschaft – wird dabei immer gefördert, weil sich in solchen Fällen Wohnkosten pro Kopf minimieren. Allerdings ohne dabei Alleinlebende mit hohen Wohnkosten im Regen stehen zu lassen – Stichwort Wohngeld. Darüber hinaus gilt: Zu hohe Mieten sind zu deckeln!
Weniger Arbeit für alle dank Grundeinkommen
Christoph Butterwegge stellt mit der Bürgerversicherung als inklusive, universelle Gesundheitsabsicherung eine Alternative zur Bismarck’schen Sozialversicherung vor. Warum er ein mit der Bürgerversicherung verbundenes Grundeinkommen ablehnt, bleibt unklar. Beruhen doch beide Säulen des Sozialsystems auf dem gleichen Prinzip, das sich radikal von der Logik einer Armenfürsorge und lohnarbeitsabhängigen Sozialversicherung unterscheidet: die bedingungslose Absicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen, finanziert durch eine solidarische Umverteilung. Dieser Sozialstaatsansatz wird sogar um einen arbeitszeitpolitischen Aspekt erweitert: Das Grundeinkommen ermöglicht vielen Vollzeitbeschäftigten, ihre Arbeitszeit zu verkürzen. Von Teilzeitbeschäftigten nimmt es den finanziellen Druck, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Es befördert also auch arbeitszeitpolitisch einen solidarischen Ausgleich.
Die Ausführungen von Butterwegge zur Bekämpfung der sozialen Folgen der Pandemie sind hochproblematisch: Viele Verbände von Künstler:innen haben zur Abfederung der sozialen Folgen der Pandemie ein Grundeinkommen gefordert. Sie mussten die Erfahrung machen, wie ineffektiv und ausgrenzend der bestehende Sozialstaat ist. Auch hier meint Christoph Butterwegge, diese Forderungen mit der bekannten Bemerkung zu den Reichen wegwischen zu können: „Dieter Bohlen, Helene Fischer und Roland Kaiser brauchten während der Pandemie ebenso wenig Staatshilfe wie Gerhard Richter, weil sie allesamt Multimillionäre sind.“ Vollkommen übersehen wird von ihm dabei, dass diese das Grundeinkommen im Rahmen der solidarischen Umverteilung finanzieren, unterm Strich sogar noch draufzahlen – wohingegen den finanziell mit dem Rücken an der Wand Stehenden mit dem Grundeinkommen existenzielle Nöte und der Gang zum Jobcenter erspart bliebe. Ein dafür passendes Konzept hat zum Beispiel die Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen erarbeitet – ein Grundeinkommen für alle (nicht nur für Soloselbstständige) in Krisen- bzw. Pandemiezeiten, finanziert durch eine Abgabe auf hohe Vermögen und hohe Einkommen. Auch das verschweigt Christoph Butterwegge, leider.