Bürgerschaftliches Engagement und bedingungsloses Grundeinkommen (Beitrag im Newsletter 12/2018 des Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagement vom 14. Juni 2018)
Der Begründer des bedingungslosen Grundeinkommens, Thomas Spence, verdeutlicht in seinem Text „The Right of Infants“ von 1796 den Zusammenhang von Grundeinkommen und bürgerschaftlichem Engagement: Auf der Grundlage allen gehörender natürlicher Güter wird die Gesellschaft demokratisiert. Die Nutzer/innen dieser gemeinsamen Güter (Commons) finanzieren das Grundeinkommen und die öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen – vermittels einer Nutzungsabgabe an das Gemeinwesen. Die Bürgerinnen und Bürger haben auf nationalstaatlicher Ebene durch gewählte Abgeordnete und auf lokaler Ebene durch basisdemokratische Entscheidungen die Eigentumshoheit über die gemeinsamen Güter. Sie haben auch die Möglichkeit, über die konkrete Gestaltung und Verwendung der Nutzungsabgaben zu entscheiden. Spence verspricht sich von dem Grundeinkommen und den öffentlichen Einrichtungen nicht nur die Überwindung der Armut. Sondern er verbindet mit seinem naturrechtlichen Ansatz der gemeinsamen Güter auch eine Vision der zum verantwortungsvollen bürgerschaftlichen Engagement befähigten Menschen – weil sie einerseits alle Eigentümer/innen der gemeinsamen Güter sind und weil sie andererseits ihre grundlegende Existenz- und Teilhabesicherung dem gemeinsamen Eigentum verdanken.
Definition des Grundeinkommens
Klar definiert ist das Grundeinkommen erst seit einigen Jahrzehnten: Es ist eine Geldleistung an alle Menschen, die ohne eine sozialadministrative Überprüfung der Bedürftigkeit und ohne einen Zwang zur Arbeit oder zu einer Gegenleistung, individuell die Existenz- und gesellschaftliche Teilhabe sichern soll. Diese vier Kriterien kennzeichnen das Grundeinkommen als bedingungslos. In Deutschland wurde das Grundeinkommen erstmalig im Jahr 1982 von unabhängigen Erwerbsloseninitiativen gefordert, Mitte der Achtziger in der grün-alternativen Bewegung. Seit der Einführung von Hartz IV ist die Debatte um das Grundeinkommen aus der Öffentlichkeit in Deutschland nicht wegzudenken. Auch weltweit und in Europa findet das Thema Grundeinkommen immer mehr Beachtung. Bereits 1986 gründete sich das Basic Income European (heute Earth) Network, 2014 das europäische Netzwerk Unconditional Basic Income Europe (UBIE).
Politische Funktionen des Grundeinkommens
Sowohl in politisch-liberalen, libertären und republikanischen Diskussionen wird das Grundeinkommen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung als eine Form des materiellen Schutzes vor ökonomisch bedingter politischer Erpressbarkeit der Menschen und als eine Form der Ermöglichung der aktiven Gestaltung des Öffentlichen durch die Menschen verstanden. Andere förderliche Rahmenbedingungen wären zum Beispiel öffentlich zugängliche bzw. nutzbare Infrastruktur, Dienstleistungen, Bildung und öffentliche Räume (vgl. Blaschke 2006). Nichtmonetäre, bedingungslose Grundabsicherungen können ebenso (teilweise) die Funktionen des Grundeinkommens übernehmen: gebührenfreie Zugänge zu Mobilität, Information und Kommunikation, Gesundheitsversorgung, Wissen usw. Damit wird deutlich: Das Grundeinkommen ist kein Geldprinzip, sondern ein menschenrechtliches bzw. bürgerrechtliches Prinzip. Es soll jedem Menschen bedingungslos die grundlegende Existenz und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe und Teilnahme sichern.
Erfüllung von Bürgerpflichten als Bedingung der Existenz- und Teilhabesicherung?
Aus der Definition des Grundeinkommens und aus oben genannten politisch-liberalen, libertären und republikanischen Begründungen ergibt sich, dass das Grundeinkommen an keinerlei Gegenleistungen gebunden ist, auch nicht an sogenannte Bürger/innenpflichten. Denn diese Bedingung würde letztlich auf eine ökonomische Erpressbarkeit der Menschen und daraus resultierende (Fremd-)Herrschaftsverhältnisse hinauslaufen – ein Widerspruch zu einer Bürger/innengesellschaft: Denn wer diese Verpflichtung nicht erfüllt, ist seiner Existenz sowie Teilhabemöglichkeit sowie seiner Autonomiefähigkeit beraubt. Damit wären die Grundlagen der Bürger/innengesellschaft bedroht. Gegen die Bedingung der Existenz- und Teilhabesicherung, erst Bürger/innenverpflichtungen zu erfüllen, sprechen auch andere Gründe: die Umstrittenheit und die (historische und politische) Willkürlichkeit dessen, was denn konkrete Gegenleistungen der Bürger/innen sein sollen. Grundsätzlich sind politische u. a. Teilhaberechte in den Menschenrechten bedingungslos gewährte Rechte. Sie sind aus Gründen der Menschenwürde nicht an eine Gegenleistungsverpflichtung oder einen Gegenleistungszwang gebunden. Um es zu verdeutlichen: Einen steuerlichen Grundfreibetrag (der ja das geltende Existenzminimum vor seiner Besteuerung schützen soll) erhält man nicht nur, wenn man an der Wahl teilnimmt, sich zur Wahl stellt oder aktiv in einer bürgerschaftlichen Initiative beteiligt. Das Grundeinkommen kann man sich als ausgezahlten Steuerfreibetrag vorstellen, natürlich in ausreichender Höhe.
Bürgergeldansätze, wie zum Beispiel der Ansatz von Ulrich Beck, die das Bürgergeld an eine Gegenleistung knüpfen, sind keine Grundeinkommen. Sie sind, schaut man sich die Konzepte genauer an, eine Bezahlung einer (Gegen-)Leistung. Sie sind Erwerbseinkommen. Dasselbe trifft für das „solidarische Grundeinkommen“ zu, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, jüngst ins Gespräch brachte. Dies ist eine Entlohnung einer öffentlich geförderten Erwerbsarbeit.
Verantwortungsübernahme und Solidarität nur bei wechselseitiger Anerkenntnis der Autonomie möglich
Das Grundeinkommen ist eine Ermöglichung von etwas, es ist keine Vergütung oder Bezahlung für etwas. Erst die Abwesenheit von ökonomischen Zwang ermöglicht Freiwilligkeit und autonomes, auch solidarisches Handeln – wie es das bürgerschaftliche Engagement intendiert. Solidarisch ist das Grundeinkommen, weil sich damit alle Menschen wechselseitig die ökonomische Unerpressbarkeit und damit materiell abgesicherte Autonomie zugestehen. Anforderungen an ein Handeln, die auf der ökonomischen Erpressbarkeit und auf Autonomieverlust der Menschen basieren, sind das Gegenteil von solidarisch. Sie sind materielle Nötigung und Zwang. Im Kontext des bürgerschaftlichen Engagements wäre die Freiwilligkeit darüber hinaus auch bedroht, wenn das Engagement die individuelle ökonomische Existenz und Teilhabemöglichkeit sichern soll. Etwas anderes ist die notwendige Rückvergütung von Aufwendungen, die durch das Engagement verursacht werden (Aufwandsentschädigung).
Aus ethischer Sicht gilt auch, dass ein ökonomisch erpresstes oder erzwungenes Engagement kein verantwortbares Handeln ermöglicht: Wer eine nicht im freien Willen gesetzte Aktivität zwangsweise übernehmen muss, kann nicht für diese Aktivität verantwortlich gemacht werden. Ökonomischer Zwang ist daher letztlich Grundlage einer auf systemisch bedingter Verantwortungslosigkeit basierenden Wirtschaft und Gesellschaft.
Moralische Bürgerpflicht und Grundeinkommen
An dieser Stelle kann auch auf die Frage der moralischen Bürger/innenpflichten gegenüber dem Gemeinwesen bzw. anderen Menschen eingegangen werden. Klar ist: Eine Aktivität, die sich auf eine moralisch untersetzte Einsicht gründet, ist etwas anderes, als eine Aktivität, die ökonomisch erpresst ist. Mit einer bedingungslosen materiellen Absicherung der Individuen ist aber die Frage der moralischen Pflicht nicht erledigt. Kann es doch aus gesellschaftlich starken Normativen heraus moralische Verpflichtungen geben, deren Nichterfüllung Stigmatisierungen und Ausgrenzungen zur Folge haben – auch wenn man materiell bedingungslos abgesichert ist. Aber: In einer vorgestellten Grundeinkommensgesellschaft schwächen sich Anerkennungskonflikte bzw. Stigmatisierungsmöglichkeiten aufgrund unerfüllter moralischer Verpflichtung ab. Denn deren gesellschaftliche Voraussetzung ist ja ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens darüber, dass der Mensch in seiner Autonomie anerkannt wird. Das Grundeinkommensprinzip stärkt dagegen freiwilliges Engagement für das Gemeinwesen und für andere, weil es viel mehr an den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Engagierten orientiert und für diese auch moralisch vertretbar ist. Die Einsicht in das notwendig zu Tuende wird sozusagen vom materiellen und normativ geprägten moralischen Druck befreit, damit aber auch freier, individuell passender möglich. Das wäre eine win-win-Situation für die Engagierten als auch für das Gemeinwesen bzw. im sozialen Kontext für die Unterstützten. Stellen wir uns im Gegenteil eine materielle oder per moralischer Bürger/innenpflicht abgenötigte soziale Unterstützung anderer Menschen vor. Ein solches „Engagement“, das nicht auch von der Einsicht in die Notwendigkeit und individuellen moralischen Vertretbarkeit des zu Tuenden geleitet ist, wäre sicherlich keine Wohltat für die Unterstützten.
Weiterhin: Eine vorgestellte Grundeinkommensgesellschaft im o. g. Sinne wäre eine Gesellschaft, in der die Möglichkeit der Menschen erweitert wird, an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen teilzunehmen. Damit erweitert sich auch die Möglichkeit, moralische Prinzipien und entsprechende Institutionen dem öffentlichen Diskurs, also der politischen Aushandlung zugänglich zu machen. Daraus folgt erstens, dass eine moralische Erzwingung bestimmter Pflichterfüllungen schwieriger wird, weil die Pluralität der Auffassungen als auch die Konkretion dessen, was eine moralische Verpflichtung sei, und was nicht, geweitet wird. Zweitens folgt daraus aber ebenso eine stärkere Identifizierung der Menschen mit moralischen Pflichten: Sind es doch ihre gemeinsam ausgehandelten moralischen Anforderungen, die mit bestimmten individuellen Einsichten verbunden sind.
Die Zeitfrage
Tätigkeit, ob nun Lohn- bzw. Erwerbsarbeit, bürgerschaftliches Engagement oder unbezahlte Care-Arbeit im eher familialen Kontext, braucht ihre Zeit, ebenso die vierte wichtige Form der Aktivität, die Muße. Der Tag hat aber nur 24 Stunden. Wer also dafür plädiert, dass eine Gesellschaft allen die Möglichkeit geben soll, Zeit für alle vier Aktivitäten zu haben, sollte sich ebenfalls mit dem Grundeinkommen beschäftigen. Umfragen, die auch die mögliche Zeitverwendung bei Einführung des Grundeinkommens erfragen, ergeben einen Anteil von 18 bis 36 Prozent Erwerbstätiger, die ihre Erwerbsarbeitszeit mit einem Grundeinkommen verkürzen würden. Das Grundeinkommen kompensiert (teilweise) das dadurch ausfallende Erwerbseinkommen, gibt materielle Sicherheit bis ans Lebensende, gibt jeder und jedem mehr Zeit zur freien Verfügung. Das hat wiederum zur Folge, dass Erwerbsarbeitszeit für bisher Erwerbslose frei wird, also die Möglichkeit besteht, in Verbindung mit entsprechenden Qualifikationen jedem erwerbsfähigen Menschen zzgl. zum Grundeinkommen Erwerbseinkommen zu ermöglichen. Das oft beschriebene geringere bürgerschaftliche Engagement Erwerbsloser wäre kaum ein Thema mehr. Wäre doch für (dann ehemals) Erwerbslose mit dem Grundeinkommen und zuzüglichem Erwerbseinkommen eine materielle Ermöglichung des bürgerschaftlichen Engagements gegeben, und mit der Teilhabe an der Erwerbsarbeit auch eine sozialintegrative Hürden überwunden.
Multiaktivitäts- bzw. Tätigkeitsgesellschaft und Grundeinkommen
Die Normativität „Erwerbsarbeit“ würde ihre zentrale Rolle in einer Grundeinkommensgesellschaft verlieren, sie würde einer pluralen Normativität der Multiaktivitätsgesellschaft (André Gorz) bzw. Tätigkeitsgesellschaft (Ralf Dahrendorf) Platz machen. Oft werde ich gefragt, ob dies nicht auch mit einer radikalen kollektiven Arbeitszeitverkürzung bei (teilweisem) Lohn- und Personalausgleich erreichbar wäre. Grundsätzlich gilt: Das Grundeinkommen ist kein Gegenentwurf zu diesem gesellschaftlichen Projekt, sondern grundsätzlich mit diesem vereinbar. Nur öffnet es gegenüber kollektiven Regelungen mehr individuelle Spielräume der Zeitverfügung für alle Erwerbstätigen. Es zielt aber nicht nur auf Erwerbstätige, sondern auf jeden Menschen, weil es die grundlegende Existenz- und Teilhabesicherung vom individuellen Erwerbsarbeitseinsatz entkoppelt.
André Gorz und Ralf Dahrendorf waren diejenigen, die klar erkannten, warum für die „Herren der Arbeitsgesellschaft“ (Dahrendorf) das Grundeinkommen ein rotes Tuch ist: Erstens weitet es das Nadelöhr des legitimen und stigmatisierungsfreien Anspruchs auf eine Existenz- und Teilhabesicherung. Die grundlegende Absicherung wird ein Menschen- bzw. Bürgerrecht für alle. Zweitens stellt es die viele Menschen und andere Tätigkeitsformen diskriminierende normative Vorrangstellung der Lohn- bzw. Erwerbsarbeit in Frage. Das sind zwei Gründe, warum die Spitzenvertreter der Industrie- und Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften das Grundeinkommen ablehnen – deren gesellschaftliche Vorrangstellung steht dann nämlich in Frage. Bei den Gewerkschaften hingegen ist die Basis durchaus anderer Meinung: Die IG-Metall-Basis hält das Grundeinkommen für eine wichtige politische Forderung, die Hälfte aller ver.di-Landesbezirke fordert eine offene Diskussion bzw. gewerkschaftskompatible Grundeinkommenskonzepte. Jüngst haben die Frauen der IG BAU Aktionen zum Grundeinkommen gestartet.
Die nunmehr bald 40 Jahre lang währende Debatte über das Grundeinkommen in Deutschland hat immer wieder auf den Zusammenhang von individueller Zeitsouveränität und Grundeinkommen verwiesen, ebenfalls die herrschende Normativität der Erwerbsarbeit in Frage gestellt. Diese Themen stehen auch angesichts der Automatisierungs- und Digitalisierungsfortschritte auf der Tagesordnung. Derzeit fehlt allerdings die allgemeine politische Bereitschaft, diese Fortschritte zum Allgemeinwohl zu nutzen: für eine Demokratisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft, für eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit, für eine zunehmend universelle Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
„Diäten light“ für alle
Die Debatte über das Grundeinkommen wurde – wie auch eingangs bemerkt – vor dem Hintergrund der Frage geführt, inwieweit das Grundeinkommen die Möglichkeiten erweitert, dass sich Menschen materiell und zeitlich abgesichert und ökonomisch unerpressbar in die Gestaltung des Gemeinwesens einbringen können. Zum Abschluss des Beitrags möchte ich dabei auf die Formulierungen von Katja Kipping „Diäten light“ bzw. „Demokratiepauschale“ verweisen. Sie spielen auf den Umstand an, dass eine Bürgergesellschaft, also eine radikal demokratisierte Gesellschaft, materiell und zeitlich befähigte und unerpressbare Bürger/innen braucht. So wie Diäten der Abgeordneten dazu gedacht waren, dass sich gewählte Bürger/innen sowohl zeitlich als auch materiell unabhängig in der Politik bewegen können, braucht es ein Grundeinkommen für alle Bürger/innen, sozusagen eine „Diät light“ für alle. Christoph Spehr hat das Komische an der Situation verdeutlicht, wenn Abgeordnete sich gegen ein Grundeinkommen aussprechen, obwohl deren Diäten genau diesem Prinzip geschuldet sind: „Es ist von erheblicher Komik, dass Abgeordnete für sich in Anspruch nehmen, durch relativ hohe Gehälter ihre inhaltliche Unabhängigkeit zu wahren und sich nicht-erpressbar zu machen – dass die meisten dieser Abgeordneten es aber nicht für nötig halten, eine derartige Unabhängigkeit und Nicht-Erpressbarkeit auch für den Souverän, nämlich die Bevölkerung, zu gewährleisten.“