In seinem Artikel »Placebo für den Widerstand« polemisiert Ernst Lohoff gegen Linkskeynesianer und Befürworter des Grundeinkommens gleichermaßen. Lohoff zufolge ist nur eins notwendig: das Skandalisieren der grotesken Widersprüche des Kapitalismus. Damit enthüllt er vor allem sein Unverständnis für emanzipatorische und transformatorische Ansätze als Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft.
Er wagt nicht einmal den Versuch, Grundzüge einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu entwerfen bzw. Wege zur Transformation aufzuzeigen. Eine solche Form der Kapitalismuskritik verkommt leider schnell zu einer Trauerspielversion des Stückes »Warten auf Godot«. Und der kam bekanntlich nie. Ebenso wird die Gesellschaft jenseits des Kapitalismus nicht einfach über Nacht entstehen, weil man ordentlich skandalisiert hat.
Wir betrachten, im Gegensatz zu Lohoff, das Grundeinkommen als ein geeignetes Vehikel im Hinblick auf eine kapitalismuskritische Debatte sowie zur Thematisierung der Krise der Arbeit unter dem Kapitalverhältnis. Unserer Meinung nach hat das Grundeinkommen das Potenzial zu einem Projekt, welches von der Masse getragen werden und damit die Chance auf Verwirklichung haben wird. Es ist der Versuch einer positiven Antwort auf die Frage, wofür wir streiten, wenn wir die herrschenden Zustände kritisieren.
Das Grundeinkommen greift ganz real eine entscheidende Voraussetzung der kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen an – namentlich die Abhängigkeit derjenigen, die nicht über Produktionsmittel verfügen und nur ihre Ware Arbeitskraft anzubieten haben. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde die Arbeitskraftanbieter und -anbieterinnen zwar nicht völlig aus dieser Abhängigkeit befreien, aber es würde sie in eine deutlich bessere Verhandlungs- und Gestaltungsposition versetzen, da sie nicht mehr zwingend auf den sofortigen Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen wären. So eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Mitbestimmung hinsichtlich Zweck und Methode der materiellen Produktion, für das Erstreiten ökologischer Standards und höherer Löhne. Ein Grundeinkommen erleichtert weiterhin die Gründung von Genossenschaften oder anderen Formen der freien Assoziation und kann damit die Voraussetzung für eine allmähliche Vergesellschaftung der materiellen Produktion bieten. Insofern meinen wir: Das bedingungslose, die Existenz sichernde Grundeinkommen hat das Zeug dazu, den Kapitalismus von innen zu zerstören.
Wir knüpfen dabei auch an den Überlegungen von Karl Marx zur Selbstverwirklichung und Selbstbildung des Menschen an, wie er sie in der Analyse und Kritik der kapitalistischen Lohn-/Erwerbsarbeit entwickelte: »Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.«
Marx unterscheidet zwischen Arbeit unter dem Kapitalverhältnis und freier bewusster Tätigkeit. Geschult an Hegel meint er zum einen, dass die Qualität der gegenständlichen Tätigkeit die Qualität des gegenständlich Tätigen und seines bewussten Seins ausmacht und umgekehrt. Zum anderen ist seiner Ansicht nach der Zweck der menschlichen Tätigkeit der Mensch selbst. Das heißt, eine von fremdem Willen und äußeren Zwecksetzungen, also auch eine zum Zwecke des Erwerbs geleistete Tätigkeit ist eine entfremdete Tätigkeit – und in dieser ist die Aneignung des Gattungscharakters, das bewusste Sein eines sich selbst bildenden und sich selbst verwirklichenden Wesens als Mensch nicht möglich. Free activity, not labour ist Marx’ Vision. In der free activity ist der Tätige ein sich zugleich als Gattungswesen (re-)produzierendes Wesen. Diese freie produktive menschliche Tätigkeit kann so Lebensbedürfnis, Selbstgenuss und volle Entwicklung des Individuums sein. Free activity vollzieht sich in der »freie(n) Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist«. Free time, das ist – anders als Freizeit im heutigen Sinne – für Marx die Zeit, »die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum enjoyment (Genießen), zur Muße, (also) zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt«. Die Zeit ist der Raum für die Entwicklung der faculties (Fähigkeiten). In diesem Freiraum, schreibt Marx, »beginnt die menschliche Kraftentwicklung, (…), das wahre Reich der Freiheit (…) Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« Die Aufhebung der Entfremdung und die Verkürzung der im Reich der Notwendigkeit zu leistenden Arbeit ist daher eine wichtige Voraussetzung für die Selbstverwirklichung.
Zum Teil abgeleitet aus dieser Marxschen Vision sehen wir weitere Gründe, für ein Grundeinkommen zu streiten:
Erstens sei auf seine die Arbeitszeit verkürzende Wirkung verwiesen. Ein Grundeinkommen gibt denjenigen, die auf Erwerbsarbeit freiwillig (partiell) zugunsten der Arbeitsuchenden verzichten, eine Grundentschädigung und ermöglicht somit ein solidarisches Verhalten von Vollzeiterwerbstätigen gegenüber Arbeitsuchenden. Weil Lohneinbußen darüber kompensiert werden, können die Erwerbstätigen partiell auf Erwerbsarbeitszeit verzichten, sei es in Form von Sabbatjahren, Teilzeitarbeit oder kollektiver Arbeitszeitverkürzung.
Zweitens gewährleistet das Grundeinkommen, dass kein Mensch aus der Not heraus eine untertariflich bezahlte Tätigkeit aufnehmen und prekäre Arbeitsbedingungen akzeptieren und damit anderen Erwerbstätigen unsolidarisch in den Rücken fallen muss.
Drittens ist anzuführen, dass Kapital und Lohnarbeit auf vielen verschwiegenen Tätigkeiten und Leistungen basieren: Sorge-, Erziehungs-, Bildungs-, Kommunikations- und Organisationstätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit. Das heißt, die eigentliche Basis der bezahlten Erwerbsarbeit und der Mehrwertaneignung wäre durch ein Grundeinkommen zumindest in Ansätzen entgolten.
Darüber hinaus ist ein Grundeinkommen, viertens, die adäquate Antwort auf die Produktivkraftentwicklung selbst. In wachsendem Maße stellen Intelligenz, Kommunikation, Kreativität und Wissen die größte Produktivkraft dar. Diese generiert sich aber jenseits der Arbeit bzw. der Arbeitszeit. Deswegen kann die individuelle Arbeitszeit immer weniger das Maß der Arbeit und des damit verbundenen Einkommens sein. Auch kann das in den Mensch-Maschine-Organisations-Komplexen generierte kulturelle Wissen weniger einer individuellen Wertschöpfung zugerechnet werden. Je weniger aber die unmittelbare Arbeit bzw. Arbeitszeit Maß des Einkommens sein kann, desto mehr müssen sich Arbeit bzw. Arbeitszeit und Einkommen entkoppeln; es muss also ein Grundeinkommen gezahlt werden.
In der Tendenz ist das bedingungslose Grundeinkommen ein Phänomen der sich real vollziehenden Aufhebung des klassischen Wertgesetzes und der daran angelehnten Verteilung: Nicht mehr der während der Arbeitszeit erarbeitete Wert ist das Maß der künftigen Verteilung von Zahlungsmitteln, wie auch Preise nicht mehr den abstrakten Tauschwert der Ware spiegeln. Einkommen und Preise sind nunmehr Spiegel des gewählten Konsum-, Zivilisations- und Lebenskonzepts der Gesellschaft und ihrer Mitglieder.
Uns geht es, fünftens, um das Recht auf die frei gewählte, aktive Teilnahme an der Gesellschaft – um die Möglichkeit, dass jede und jeder die gesellschaftliche Entwicklung, ob nun in der Arbeits- oder Lebenswelt, mitgestalten kann. Und es geht uns um die Entfaltung der Fähigkeiten jeder und jedes Einzelnen und das »Recht auf Autonomie, die deren produktive Funktion transzendiert und Selbstzweck ist«, wie André Gorz schreibt.
Ein bedingungsloses, die Existenz sicherndes Grundeinkommen steht für eine andere Gerechtigkeit, die die falsche Logik, wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen, durchbricht. Es steht dafür, unterschiedliche Lebensstile als gleichwertig anzuerkennen. Und für diese Gerechtigkeit wollen wir hier und jetzt streiten, gerade angesichts von Hartz IV und globaler imperialer Politik. Das Grundeinkommen ist ein Weg zu mehr Gerechtigkeit und der Ansatz zu einer demokratischen Aneignung des materiellen und gesellschaftlichen Lebens.
Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass mit der Einführung des Grundeinkommens der Kapitalismus überwunden wird. (Mal davon abgesehen, dass wir skeptisch gegenüber solchen Projekten sind, die nicht über den nationalstaatlichen Tellerrand schauen.) Aber in einer Gesellschaft, in der ein Grundeinkommen erstritten wurde, sind die Voraussetzungen für eine grundlegende Transformation der Gesellschaft deutlich besser (unnötig zu erwähnen, dass dies unserer Meinung nach nur auf demokratischem Wege vonstatten gehen kann).
Hinzu kommt, dass wir die Qualität von Kapitalismuskritik nicht nach ihrer Lautstärke, sondern nach ihrer Wirksamkeit und Überzeugungskraft bemessen. Aus diesem Grunde beteiligen wir uns an den Debatten des Basic Income Earth Network (BIEN), organisieren den ersten deutschsprachigen Kongress zum Grundeinkommen in Wien sowie einen Jugendkongress zum Wandel in der Arbeitswelt und zum Grundeinkommen. Auch werden wir auf dem Sozialforum in Deutschland (siehe Seite 9) für das Grundeinkommen werben. Dies alles erscheint uns kapitalismuskritischer zu sein, als mit herunterhängenden Mundwinkeln vergeblich auf Godot zu warten.
Ronald Blaschke ist Sprecher des Netzwerkes Grundeinkommen (www.grundeinkommen.de) sowie der Sächsischen Armutskonferenz. Katja Kipping ist Sprecherin des Netzwerkes Grundeinkommen und stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei.